Und plötzlich war die Klasse "judenfrei"...
Bald 55 Jahre ist es her, dass ihn eine Handvoll seiner Neuenheimer Freunde zum Bahnhof brachten, darunter - makaber genug -ein paar sogar in der Uniform der Hitlerjugend, erinnert sich Hans Franke. Für den damals l4jähri-gen Lehrerssohn aus der Uferstraße, der mit seiner Mutter, einer bekannten Klavierlehrerin, im März 1935 in den Zug kletterte, sollte es ein Abschied für lange Zeit sein. Denn die zuvor hochangesehenen Frankes fühlten sich hier immer weniger gelitten, die früh verwitwete Mutter, weil sie Jüdin war, die Söhne Hans und Kurt, weil sie nach den neuen Rassegesetzen plötzlich als "Halbjuden" galten. Frühzeitig kehrten sie daher der alten Heimat den Rücken - doch sie haben sie nie vergessen. "Die Zeit heilt Wunden", meinte der heute 69jährige Heimkehrer Hans Franke jetzt bei einem neuerlichen Besuch am Neckar. Erstmals führte er dabei seinen eigens aus den USA angereisten Sohn Rafi und den zehnjährigen Enkel zu den Spuren seiner Kindheit. Etwas ungläubig betrachtete da der Enkel den patenten Großvater, als er am Schlossaltan die neueste Version zu dem Fußabdruck zum Besten gab: Er stammte natürlich von ihm selbst, seinerzeit auf der Flucht vor einem Bösewicht. Doch voll Bewunderung sah der Junge auf, als er beim Blick von der Heuss-Brücke die Geschichte vom kleinen Hans aus dem Jahre 1929 vernahm, der beim großen Eisgang auf dem Neckar zum Entsetzen zahlreicher Zuschauer von Scholle zu Scholle springend den Fluss unter der Brücke hindurch überquerte und sich dafür eine gehörige Tracht Prügel einhandelte. Begleitet von seinem in Rohrbach lebenden alten Schulfreund Erich Ulsenheimer, einem der letzten noch lebenden Kameraden jener Jahre, macht sich Hans Franke nun schon seit 1961 alle paar Jahre wieder auf, um bei Streifzügen durch die Stadt sein altes Heidelberg wieder zu entdecken. Auch sein älterer Bruder Kurt, der seinerzeit früh nach Israel ging und das Leben in einem Kibbuz wählte, während er selbst nach entbehrungsreichen Jahren in die Leitung eines Kraftwerks bei Tel Aviv aufrückte, war schon einige Male hier. doch die Mutter hat es nicht mehr geschafft. Die Zeiten waren damals noch nicht danach... So wollte Hans Franke auch seinen alten Klassenlehrer besuchen, der ihm im letzten Schuljahr lauter "Bollen" ins Zeugnis schrieb, um dann im Lehrerzimmer zu verkünden: "Jetzt ist die Klasse judenfrei!" Er sei schon lang gestorben, rief eine Frau zum Fenster herunter, als der Besucher am Hause klingelte. Vielleicht wäre die Begegnung für den alten Herrn etwas peinlich geworden, doch der Schüler Hans wollte ihm "überhaupt nichts nachtragen". Die Zeit scheint auch solche Wunden zu heilen, denn im Gespräch rücken immer wieder die schönen Eindrücke der Kinderjahre nach vorne: die ausgedehnten Spiele an der "Wasserschachtel" am Neckarufer, das klammheimliche Sammeln von Esskastanien (damals gebietsweise verboten), gewagte Rodelpartien mit selbstgebastelten "Bauchrutschern" vom Philosophenweg über die Bergstraße hinweg, das Schwimmen beim "Nikar" und die Abstecher mit Freunden in die Altstadt, "als die Hauptstraße noch so breit war". Zumindest stellte sie sich aus der Perspektive des kleinen Hans damals halt breiter dar als heute. Doch auch sonst, so sagt er, hat sich die Stadt sehr verändert. Und sein Freund Erich Ulsenheimer staunt immer wieder, wie viel der Heimkehrer noch von früher weiß. Als sich die Freunde vor bald 55 Jahren im Hauptbahnhof verabschiedeten, gab es bei beiden einen "Riss". Sie spürten irgendwie, dass es für lange sein würde; verstehen konnten sie das alles nicht- bis heute. Dem Freund, der in Heidelberg geblieben ist, kommt der Flüchtling von damals inzwischen wie ein "Wanderer zwischen den Welten vor". Auf steiler Klippe am Meer hat sich Hans Franke zusammen mit seiner aus Wien stammenden Frau in Israel ein Haus gebaut, doch es zieht ihn - wenn nicht gerade nach Heidelberg - auch immer wieder nach Kalifornien, wo er in der Autowerkstatt seines Sohnes ein reiches Betätigungsfeld hat. Heidelberg-Erinnerungen hängen auch dort an vielen Wänden.