Die Eingemeindung Neuenheims 1891
Gisela Grenz befragt den Heidelberger Historiker Jochen Goetze:
1. 1891 wurde Neuenheim eingemeindet. Aus welchem Grund?
Ja, die Gründe sind sehr vielfältig. Aber es gibt einen Hauptgrund, nämlich die vollkommene Überschuldung der Gemeinde Neuenheim, die bis dahin eine selbständige Gemeinde war; obwohl Heidelberg, das muß man dazusagen, eigentlich schon jahrhundertelang immer so ein bisschen die Finger nach Neuenheim ausgestreckt hat. Die Entscheidung des Jahres 1891 ist eigentlich eine Entscheidung, die bereits Jahre vorher getroffen war. Ich sagte eben, dass die Gemeinde Neuenheim völlig überschuldet war. Das hing damit zusammen, dass in Baden, zu dem ja Neuenheim ebenfalls gehörte, seit 1873, also nach dem deutsch-französischen Krieg, wo ja ungeheure Gelder nach Deutschland flössen, dass also in Baden Gemeindeordnungen erlassen wurde, die den Gemeinden beispielsweise zur Pflicht machten, Kanalisation zu legen, die es bis dahin ja noch nicht gegeben hatte. Oder es mussten bei einer bestimmten Bevölkerungszahl Schulen gebaut werden und ähnliche Dinge. Und das waren in erster Linie finanzielle Probleme, die die kleinen Gemeinden im Umfeld der großen Städte ganz entscheidend getroffen haben, - speziell eben auch Neuenheim, ein Bauern- und Fischerdorf. Die Gemeinde war nun mit diesen Zwangsmaßnahmen überfordert: Kanalisation, Schulbau, Wegebau - Neuenheim besaß einen großen Wald, der unterhalten wurden musste. Das alles kostete so unendlich viel Geld, dass eine Eingemeindung nach Heidelberg unumgänglich schien.
2. Waren die Neuenheimer Bürger über ihre Eingemeindung eigentlich glücklich? Welche Vorteile, bzw. Nachteile ergaben sich dadurch?
Sie waren zunächst über die bevorstehende Eingemeindung überhaupt nicht glücklich. Das hat ungefähr zwei Jahre lang, etwa von 1889 bis Ende 1890 erhebliche Meinungsverschiedenheiten und Differenzen quer durch die Neuenheimer Gemeinde gegeben, - und zwar hauptsächlich darauf beruhend, dass die älteren Bewohner Neuenheims natürlich ungern die Selbständigkeit und die eigene Gemeindefreiheit aufgeben wollten. Auf der anderen Seite sah man natürlich sehr wohl, dass man mit diesem Berg von Schulden nicht weiter leben konnte. Es hätte nach den damaligen Gebräuchen folgendermaßen geregelt werden müssen: Dass eben eine Bürgerumlage hätte gemacht werden müssen, um diesen enormen Berg von Schulden abzubauen, das waren damals immerhin knapp 400 000 Goldmark, das ist eine Summe, die kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. An der hatten die Neuenheimer, das muss man dazusagen, selbst überhaupt keine Schuld. Die kamen eben durch diese staatlichen Fördermaßnahmen zustande, denen eigentlich die Gemeinde nicht nachkommen konnte.
Glücklich waren sie insofern auch nicht, weil der Anschluss an die Stadt Heidelberg in diesen Jahren eigentlich de facto schon vollzogen war, und zwar einfach dadurch, dass ab 1877 bereits die Brücke existierte. Und die Brücke verbindet zwar Neuenheim mit Heidelberg, aber die Brücke musste in irgendeiner Form weitergeführt werden; die alte Hauptstraße von Neuenheim war die Bergstraße - und nicht die Brückenstraße. Die Gemeinde musste hier also wiederum tief in die Tasche greifen, um Grundstücke aufzukaufen, damit diese weiterführende Straße durch den alten Ort Neuenheim finanziert und gebaut werden konnte. Das hat natürlich in Neuenheim damals nach dem Bau der Brücke bereits zu 'ner ganzen Reihe von Schwierigkeiten, Auseinandersetzungen in der Bevölkerung geführt. Und damals sind bereits Stimmen laut geworden, dass es doch im Grunde einfacher wäre, man würde sich Heidelberg anschließen und eingemeinden lassen, dann würde man all diesen Problemen aus dem Wege gehen. Die beiden letzten Jahre vor der Eingemeindung waren gekennzeichnet durch eine ungeheure Zuspitzung dieses Streites.
Glücklich sind sie eigentlich erst geworden, als die Eingemeindung vollzogen war. Und bezeichnenderweise war die Meinung in Neuenheim etwa halb und halb. Und erst in der letzten Wochen, in den entscheidenden Wochen vor dem eigentlichen Beschluss durch die Landesregierung, dass nun die Eingemeindung vollzogen werden sollte, das war im Juni 1890, näherten sich die Standpunkte an. D.h. in der Endabstimmung, die im Mai 1890 in Neuenheim stattfand, haben sich von den - ich glaube - 152 anwesenden Diskussionsteilnehmern etwa 140 für die Eingemeindung ausgesprochen. Nur drei waren dagegen, der Rest hat sich der Stimme enthalten.
Nachteile sind natürlich die: Einmal der Verlust der Eigenständigkeit. Und natürlich die Tatsache, dass jetzt nicht mehr gemeindlich gewirtschaftet werden konnte, sondern Neuenheim eben nur noch ein Stadtteil von Heidelberg war.
3. Und was hat man in Heidelberg zu der Eingemeindung gesagt?
In Heidelberg beobachtet man natürlich auch sehr gespannt, was sich da in Neuenheim entwickeln würde. Die Heidelberger Altstadt war der Kernpunkt des Widerstandes gegen die Eingemeindung, und zwar einfach deswegen: Betuchte Bürger zogen nicht mehr in die Altstadt, einfach deswegen, weil sie zu klein und zu eng war. Die zogen bereits nach Neuenheim in die Bergstraße. Die Bergstraße ist ja auch, wenn man sich den baulichen Bestand ansieht, bereits ab der Mitte des vorigen Jahrhunderts vom Großbürgertum besiedelt worden. Die Altstadt von Heidelberg verkümmerte so regelrecht. Und da machte sich ein besonderer Unmut über die bevorstehende Eingemeindung breit, vor allen Dingen angesichts der Tatsache, dass die Neuenheimer mit einem Berg von Schulden eingemeindet wurden. Was also heißen würde, dass das Heidelberger Stadtsäckel durch diesen Schuldenberg enorm belastet würde. Es hat dann nach der Neuenheimer Abstimmung in Heidelberg ebenfalls eine Abstimmung gegeben, ob Heidelberg diese Eingemeindung auch wolle. Und diese Abstimmung ging denkbar knapp aus. Es waren also nur wenige Stimmen Unterschied für die Eingemeindung. Das kennzeichnet, glaub ich, ganz gut die allgemeine Situation in der Stadt.
4. Und was hat sich in Neuenheim seit der Eingemeindung eigentlich grundsätzlich verändert?
Ja, grundsätzlich hat sich sehr viel verändert. Und zwar einmal besonders die Sozialstruktur dieser ehemals selbständigen Gemeinde, die früher ja eine regelrechte Bauerngemeinde gewesen ist - mit einem großen Anteil übrigens auch an Weinbergen hier in der Ebene, da wo jetzt das Neubaugebiet für die Universität ist. Dann auch diese neu erschlossenen Straßen, etwa ab der Berlinerstraße bis hin etwa in die Werderstraße. Das waren damals zum großen Teil noch Weinbaugebiete. Und weil der Weinbau Ende des vorigen Jahrhunderts ja allgemein zurückgegangen ist durch Rebkrankheiten, die man nicht feststellen konnte und nicht bekämpfen konnte, war es für die Bauern erträglicher, hier landwirtschaftliche Betriebe zu gründen. Und diese ganze ursprünglich sehr harmonisch gewachsene landwirtschaftliche Struktur, die ist natürlich dann untergegangen; vor allem, weil jetzt, nachdem die Kanalisation endlich angelegt war und ab 1893 auch die Eisenbahn, d.h. die Lokalbahn, die spätere OEG durch Neuenheim fuhr - und dann die Straßenbahn gebaut wurde, wurde Neuenheim de facto auch in die Stadt hineingezogen. Oder umgekehrt: Die Stadt breitete sich nach Neuenheim aus. Und das hat natürlich dann zu 'ner ganz erheblichen Änderung der Sozialstruktur geführt.
Das ist eine ganz entscheidende Folge, die sich aus der Eingemeindung ergeben hat. Und daraus ist dann das Neuenheim geworden, wie wir es heute sehen: Ein für die Heidelberger Verhältnisse sehr gesuchter Wohnvorort, muß man immer noch sagen. Ja, Neuenheim ist eben das heutige Neuenheim geworden.
Wir danken Ihnen für das Interview!