Das Eiserne Kreuz (Autor: Heiner Müller)
Interpretation einer „Kurzgeschichte“ von Heiner Müller (D. Zeiler)
„Das Eiserne Kreuz“ ist eine Kurzgeschichte von Heiner Müller, die im Jahre 1956 veröffentlicht und die 1989 vom Reclam Verlag in den Sammelband „Erzählte Zeit – 50 deutsche Kurzgeschichten“ aufgenommen wurde. Heiner Müller (1929 – 1995), der drei politische Systemwechsel in Deutschland erleben musste, hat in dieser Geschichte einen nationalsozialistisch gesinnten Familienvater beschrieben, der nach dem Selbstmord Hitlers im April 1945 diesem samt seiner eigenen Familie in den Tod folgen will.
Kurz nach dem Tode Hitlers im April 1945 beschließt ein Papierhändler und Familienvater in Mecklenburg, seine Frau, seine Tochter und sich selbst aus Loyalität zum Führer zu erschießen. Festlich mit dem „Eisernen Kreuz“ geschmückt, einer Auszeichnung aus dem Ersten Weltkrieg (1914-1918), drängt er seine Tochter und seine Frau, mit ihm den Fußweg zum „Buchenwald“ (Z.18) einzuschlagen. Zunächst läuft er voraus, dann nötigt er beide, rasch vorauszugehen. Als er sie bereits aus dem Blick verloren hat, versucht er sich Klarheit darüber zu verschaffen, ob sie nun einfach weglaufen würden oder ob er nicht selbst einfach weglaufen sollte. Nach kurzem Zögern geht er jedoch wieder schneller, will seine Waffe, einen Revolver, wegwerfen, gibt diesen Plan aber wieder auf, als er Frau und Tochter wartend vor sich im Weg stehen sieht. Noch vor dem Erreichen des Buchenwaldes setzt er nun seinen ursprünglichen Plan um, erschießt zunächst seine Tochter und dann seine Frau, die sich weinend an ihn geklammert hat. Als ihm dämmert, dass ihn nun niemand mehr sehen oder gar ihm Befehle erteilen kann, entscheidet er sich gegen den Selbstmord und läuft stattdessen „westwärts“ (Z. 42). Er beschließt, unter fremdem Namen weiterzuleben, wirft zunächst den Revolver und dann das Eiserne Kreuz weg.
Normalerweise beginnt eine Kurzgeschichte mit einem plötzlichen Handlungselement, wobei das Geschehen längst im Gange ist; eine erklärende Einleitung kommt dabei nicht vor. Der Beginn der Geschichte hier ist also untypisch, denn hier wird die Handlung zunächst einmal erläutert. Die Geschichte erinnert dann in ihrem sachlich-lakonischen Stil beinahe an einen neutralen Bericht. Und an entscheidenden Stellen werden extrem kurze Sätze benutzt: „Er rief sie.“ (Z. 10) „Er war allein.“ (Z.36) „Er tat es.“ (Z. 48) Überhaupt wird die Handlung häufig aus der „personalen“ Situation erzählt , man bekommt in erster Linie das mit, was „er“, der Mann gerade macht oder erlebt. Und die kühle Sachlichkeit des Erzählers scheint der Gefühllosigkeit des Mannes zu entsprechen. Der Autor verzichtet auf wertende Adjektive und ausschmückende Beschreibungen. Als er, der Papierhändler, aber seine Familie aus den Augen verliert, gibt der Erzähler dessen Unsicherheit wieder, scheint seine Gefühlswelt und seine Gedanken zu kennen, verhält sich also auktorial. In diesem Moment scheint eine menschliche Regung durch die ideologische Verblendung des stramm nationalsozialistischen Mitläufers zu dringen. Trotz aller Distanziertheit gibt der Erzähler zu erkennen, dass er über der Handlung steht, kann insgesamt wohl als auktorial angesehen werden. Bereits im ersten Satz wird ja auch das zu erwartende Ende der Geschichte bereits angedeutet und damit die zu erwartende Spannung reduziert auf die Frage: Wird er es wirklich tun, wird er die 14-jährige Tochter und seine Frau umbringen?
Der „Held“ oder besser gesagt die Hauptfigur dieser Geschichte bleibt namenlos, desgleichen die Ehefrau und die Tochter. Die Personen scheinen also austauschbar zu sein. Und die Nüchternheit bei der extrem knappen Schilderung der ungeheuerlichen Tat des Mannes verstärkt den Eindruck von Stumpfsinn und Trostlosigkeit, wie man ihn bei einem typischen Mitläufer erwarten kann, dem plötzlich sein Lebensideal genommen wird.
Der Autor verzichtet auf Dialoge, Charakterisierungen fehlen – zumindest bei Frau und Tochter. Aber auch auf die Beschreibung rein äußerer Merkmale lässt er sich nicht ein, nicht einmal bei der Hauptperson. Was erfährt man von dem Mann? Er ist Papierhändler, besitzt einen Revolver mit 10 Schuss Munition aus seiner Offizierszeit im Ersten Weltkrieg und schmückt sich zu besonderen Anlässen mit dem „Eisernen Kreuz“, einer kriegerischen Ehrenbezeichnung, die auch Hitler besitzt. Diesem will er zunächst bis in den Tod die Treue halten. Das Innenleben des Papierhändlers wird dann zwar auf dem Weg zur Hinrichtung in Form von Gefühlsschwankungen angedeutet (Z. 23-28), aber ansonsten stellt der Erzähler nur nüchtern fest, was der Mann tut.
So wie er Hitler ergeben ist, so erscheinen auch Frau und Tochter ihm ergeben. Vor allem die Tochter folgt offensichtlich ohne Widerrede: „Er rief sie. Sie enttäuschte ihn nicht.“ (Z.10) Und bei der Frau wartet er eine Antwort auf die vermutlich rhetorische Frage, „ihm auch hierin zu folgen“ (Z. 8) erst gar nicht ab. Frau und Tochter sind Untergebene, die seiner Vorstellung von Ehre und Treue folgen müssen. Wie die Nazis über politische Gegner, so verhängt auch der Papierhändler über seine Familie eine Art „Sippenhaft“. Der Vater ist hier der „Führer“, so wie sein Idol Adolf Hitler es für das ganze deutsche Volk gewesen ist. Die Tochter hilft ihrem “Führer“ und künftigen Mörder sogar noch in den Mantel.
Wieso schließt der Mann nun aber noch ordnungsgemäß die Wohnung ab und wirft den Schlüssel in den Briefkasten (Z. 14), so als würde er in den Urlaub fahren oder für irgendjemand den Schlüssel hinterlegen? Vielleicht drückt dies eine spießige Ordnungsfantasie bei diesem Mitläufer aus, die ihn als gewöhnlichen und austauschbaren Menschen zeigen soll, der einfach automatisch handelt, ohne groß nachzudenken. Es gibt Momente der Gefahr, wo fast jeder instinktiv oder automatisch handelt, weil ein Zögern oder ein Nachdenken eventuell eine Gefahr heraufbeschwören würde. So z.B. wenn im Straßenverkehr ganz plötzlich eine unerwartete Gefahr, ein Stau auftritt oder wenn ein Kind unwissentlich in eine gefährliche Situation gerät und man kann ihm im letzten Moment helfen. Aber darum geht es hier nicht. Hier benimmt sich einer wie ein pedantisch-braver Bürger, der auch dann noch die kleinen Regeln des Alltags beachtet, während er zugleich einen Mord plant.
Dass der Hinrichtungsort ein „Buchenwald“ (Z. 13) sein soll, ist in dieser Geschichte bestimmt kein Zufall, denn „Buchenwald“ heißt auch ein bekanntes Konzentrationslager der Nationalsozialisten, in dem Juden und Nazi-Gegner abseits der Öffentlichkeit umgebracht wurden, um kein Aufsehen zu erregen. Man hatte versucht, den Zweck der Konzentrationslager so lange wie möglich zu verschleiern. Und der Papierhändler sucht den Weg in den Buchenwald ebenfalls, „um Aufsehen zu vermeiden“ (Z.11/12). Im Grunde sinnlos und sogar widersprüchlich, denn um seine Treue zu Hitler zu beweisen, hätte der Protagonist seine Tat eher auf dem Marktplatz in aller Öffentlichkeit vollbringen müssen. Aber ist das Nicht-auffallen-Wollen nicht auch ein Kennzeichen des Spießbürgers, der nicht aus der Reihe tanzen und noch einen Rest von Anstand und zivilisatorischem Verhalten zeigen will, auch wenn er bereits Böses plant?
Auf dem Weg zum Buchenwald erscheint der Papierhändler nun doch ein wenig menschlich. Er ist sich seiner Sache nicht mehr sicher, er zögert – und der Leser könnte hier hoffen, dass er von seinem Vorhaben ablässt. Heiner Müller zeigt die Verunsicherung zunächst im äußeren Geschehen: Zuerst ist der Mann entschlossen voraus gelaufen, angetrieben von seiner festen ideologischen Überzeugung, dann folgt er auf einmal seiner Frau und der Tochter, verliert sie sogar aus dem Blick. Ein Gefühlschaos lässt sich hier vermuten, wenn er einerseits Angst hat, sie könnten fliehen, dies andererseits aber sogar erhofft. In seiner Verzweiflung hofft er am Ende auf einen plötzlich eintretenden Zufall, auf das Nichtfunktionieren der Waffe. Wie wenig er hier aber Herr der Lage ist, zeigt sich am Höhepunkt der Geschichte: In dem Moment, als er gerade die Waffe wegwerfen will, sieht er seine wartende Familie auf dem Weg stehen. (Z. 23/24) Und es scheint so, als zwinge ihn deren Anhänglichkeit, seinem alten Plan wieder zu folgen, d.h. in seine alte Rolle zu fallen. Wären sie einfach weitergegangen, wäre ihnen vermutlich nichts passiert. Und so entsteht die paradoxe Situation, dass ausgerechnet die Opfer dem Täter das alte Bild von Ehre und Treue zu Hitler ins Gedächtnis rufen – und damit indirekt ihren Tod bewirken.
Ohne Zögern erschießt der Papierhändler nun zuerst seine Tochter, die ihn noch „starr“ (Z. 33) ansieht, bevor er abdrückt. Heiner Müller verzichtet hier auf wertende Aussagen, bleibt sachlich, was den Vorgang aber umso drastischer darstellt. Der Leser mag sich selbst vorstellen, was ein starrer Blick hier bedeutet. Vermutlich kennt er solch einen Blick aus diversen spannenden Filmszenen. Aber die Handlung geht unvermittelt weiter, erschreckend sachlich hält der Autor fest, dass der Familienvater nach dem Mord an seiner Tochter dreimal auf seine zitternde und weinende Frau schießt. Er sagt nicht einfach, dass er nach der Tochter auch die Frau erschießt, nein, er benennt drei Schüsse. Der Mann will also entweder ganz sicher gehen, dass sie stirbt oder er reagiert auf die Gefühle der Frau erst recht mit besonderer Härte, um nicht in seinem Entschluss verunsichert zu werden.
Und dann heißt es kurz und bündig: „Er war allein“. (Z. 36) Die Geschichte könnte hier zu Ende sein, vielleicht mit einem kleinen Hinweis auf die Selbsttötung des Papierhändlers, und man möchte sich empören über die unerbittliche Grausamkeit eines Mannes, der in seiner Verblendung sich und seine Familie auslöscht. Aber sie ist noch nicht zu Ende.
Die Handlung kippt in eine andere Richtung. Ohne den Blick der anderen, in diesem Fall den seiner Opfer, und ohne den Blick anderer Nazianhänger, die ihn nach seiner Tat beobachtet hätten, hätte er sie auf dem Marktplatz ausgeführt, fällt unser Mitläufer auf einmal aus seiner alten Rolle raus, beugt sich noch einmal über seine Tochter – und läuft „westwärts“ (Z. 42). Und das bedeutet für Heiner Müller im Jahre 1956, er läuft in Richtung der von den Westmächten besetzten Gebiete, dorthin, wo aus der Sicht der DDR-Propaganda viele alte Nazis untergekommen sind. Heute weiß man – und auch Heiner Müller hat das später erkannt -, dass ehemalige Nazianhänger genauso im kommunistischen Osten Karriere machten. Einen ähnlichen abrupten Ideologiewechsel konnte man bereits in der Weimarer Republik beobachten, wo ehemalige Kommunisten scharenweise zu den Nazis übergelaufen sind.
Den Revolver und auch das anfangs so symbolträchtige „Eiserne Kreuz“, das ihn mit Hitler verbunden hat, wirft der Papierhändler achtlos weg. Das Eiserne Kreuz hat eine lange militärische Tradition. Bereits 1813 hat es der preußische König seinen treuesten Soldaten verliehen, die gegen Napoleon gekämpft haben. Vielleicht als Ersatz dafür, dass die Versprechungen auf mehr verfassungsmäßige Rechte sich dann hinterher als hohl erweisen sollten. Hitler jedenfalls war stolz auf diese Auszeichnung – und er mag im Ersten Weltkrieg tatsächlich ein mutiger Soldat gewesen sein. Umso stolzer ist hier anfangs wohl auch der Papierhändler auf diese symbolische Auszeichnung, die für ihn vermutlich ein Ausdruck der Verbindung mit dem Führer dargestellt hat. Ein Zeichen männlicher Ehre – und Soldatenehre hat in früheren Zeiten sicher eine große Rolle gespielt. (Weit mehr als heute – falls man diesen Begriff heute überhaupt noch anwenden kann.) Und nun reißt die Verbindung ganz plötzlich ab und der Selbsterhaltungstrieb meldet sich. Man darf vermuten, dass er, wie viele andere, von nun an vorgibt, nie ein Nazi gewesen zu sein. Der „Vorhang“ (Z.43) war gefallen – und ein neues Stück Geschichte wird geschrieben. Der Mitläufer kann sich seine Haltung „abschminken“, wie Heiner Müller dies in der Metaphorik des Theaters beschreibt.
Kann man diese Geschichte heute noch verstehen, ohne etwas über die damalige Zeitlage zu wissen? Und könnte man sich vorstellen, dass es solche Menschen auch heute noch gibt?
Um die Geschichte zu verstehen, braucht man ein Minimum an Hintergrundwissen über das Ende Hitlers, das Ende des Dritten Reiches und über das Verhalten der nationalsozialistischen Mitläufer nach 1945. Aber jede gute Geschichte hat auch ein zeitloses Element, zeigt menschliches Verhalten, wie es in der ein oder anderen Art auch heute auftreten kann.
Das Hintergrundwissen zum Dritten Reich und seinem Ende müsste m.E. jedem, der eine deutsche Schule besucht hat, bekannt sein. Und wer das schulische Wissen bereits vergessen oder im Geschichtsunterricht geschlafen hat, der kann mindestens dreimal pro Woche im deutschen Fernsehen Info-Sendungen über das Dritte Reich verfolgen.
Wie selbstverständlich in einer patriarchalischen Familie dagegen der Vater bestimmen konnte, was die Familienmitglieder zu tun oder zu lassen haben, ist heute – zumindest im westlichen Kulturkreis – nur noch schwer nachzuvollziehen. Früher war dies, ähnlich wie heute in einigen Zuwanderergemeinschaften, aber Teil der Mehrheitskultur.
Die Ausrichtung auf eine Führerfigur, der sein Gefolge anleitet, scheint heute ebenfalls nur noch in außereuropäischen Kulturen, vor allem in nichtindustrialisierten Vielvölkerstaaten bekannt zu sein. Sie hat es aber früher auch bei uns gegeben.
Was kann uns nun diese Geschichte aber für unser heutiges Leben sagen? Welche Botschaften können wir in unserer modernen Welt in dieser Geschichte finden? Und was ist daran zeitlos, d.h. unabhängig vom jeweiligen Zeitgeist von Interesse?
Die zentrale Aussage dieser Geschichte liegt für mich nicht in der Beschreibung eines fanatischen Mitläufers aus der Nazizeit. Derartige Beschreibungen gibt es zuhauf. Und fanatische Menschen gibt es auch heute noch, die ihre Religion oder ihre weltliche Ideologie, Nationalismus, Rassismus oder was auch immer, anderen mit Gewalt aufzwingen wollen. Ein Blick in die täglichen Nachrichten genügt, um Fanatiker der verschiedensten Art zu finden.
Nein, die zentrale Aussage liegt für mich in der Beschreibung der Abhängigkeit ein jeder Mitläufermoral von den Blicken der anderen. Es scheint eine Art Gruppen-Moral zu geben, der sich schwache Persönlichkeiten anschließen und der sie sich – bei fehlenden oder zu schwachen Alternativen – nicht mehr entziehen können. Da diese Moral nur von außen aufgedrängt wurde, quasi als eine Art Macht, die ihren Glanz auf einen Mitläufer mit schwachem Selbstbewusstsein abstrahlt und diesen damit aufwertet, kann sie auch wie ein Kleidungsstück einfach abgelegt werden, wenn sich die Lage einmal wieder ändert. In dieser Geschichte wird so ein Verhalten, das Abstreifen einer vermeintlichen festen Überzeugung, auf die Spitze getrieben, denn hier löscht einer seine Familie aus, deren Anblick ihn an die Ergebenheit zum alten System erinnert. Und sobald dieser Anblick wegfällt, sobald der Papierhändler unbeobachtet erscheint und den Eindruck bekommt, niemand könne ihn je mehr an die alte Identität erinnern, lässt er diese Identität fallen, als ob sie nur eine Rolle in einem Theaterstück gewesen sei.
Könnte es nicht sein, dass sich nicht nur die Mitlieder der Organisierten Kriminalität, sondern auch politisch oder religiöse Extremisten, die in abgeschotteten Gruppen ihr Unwesen treiben, genauso eine brutale und zugleich variable Identität zugelegt haben? Die Blicke der anderen könnten die Blicke einer Gruppe sein, die Stärke und Macht verspricht, wenn man sich ihr anschließt. Und je autoritärer und radikaler diese Gruppe jemandem erscheint, der wenig Selbstbewusstsein besitzt, desto mehr wird sie ihm imponieren, desto mehr wird sie ihm das nachliefern, was er oder sie selbst nicht besitzt: Selbstbewusstsein. Könnte genau dies nicht gerade bei den vielen Jugendlichen der Fall sein, die in Scharen aus den demokratischen Ländern Europas nach Syrien oder in den Irak ziehen, um dort als „Gotteskrieger“ aufzutreten, weil sie hier aufgrund fehlender Bildung oder aufgrund fehlender Zuwendung für sich keine Chance sehen?
Oder könnten nicht schlauere „Gotteskrieger“ oder sogar geheimdienstliche Gruppen mit ausgelagerten Untergruppen versuchen, sich für künftige Auseinandersetzungen mit kleineren Testläufen zu rüsten, indem sie bei uns autoritäre Netzwerke mit High-Tech-Ausrüstung aufbauen, über die man besser (noch) nicht redet? Wenn die neuere Geschichte eines lehrt, dann ist es die Unzuverlässigkeit von öffentlich geäußerten politischen Aussagen. Man nehme z.B. den Nahostkonflikt zwischen Israel und Palästina. Wer sagt dort die volle Wahrheit? Man nehme die letzten Kriege gegen den Irak, den Krieg in der Ukraine, überall nur Halbwahrheiten, die dazu dienen, die wirklichen Interesse zu verschleiern. Und jeder weiß, dass gelogen wird. Aber nicht nur in der Politik, auch in der Wirtschaft und in der Finanzpolitik scheinen sich immer mehr Doppelstandards eingebürgert zu haben. Wer könnte es da jungen Menschen verdenken, wenn sie sich Gruppen anschließen, die Eindeutigkeit, feste Werte und Zuverlässigkeit (gegen Unterwerfung) versprechen?
Anders als die noch in den Medien dominierende Generation bei uns suggeriert, scheint sich das Pendel der geschichtlichen Entwicklung m.E. von der individualisierenden „Aufklärung“ in die Gegenrichtung, in Richtung der autoritären Unterordnung unter totalitäre Heilsversprechen zu bewegen. Dave Eggers hat dies in dem kürzlich auf Deutsch erschienen Roman „Der Circle“ auch für unsere moderne westliche Gesellschaft beschrieben. Charaktere wie der Papierhändler hat es immer gegeben, sie konnten aber nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und im Angesicht des kommunistischen Gegenübers in Europa in Schach gehalten werden. Heute bekommen sie Oberwasser – und man muss vermutlich wieder einige Jahre oder eine kommende (hoffentlich nicht allzu große) Katastrophe abwarten, bis die Mitläufer ihr Rollenverhalten wieder ablegen, weil ihre Anführer abgedankt haben.