Die Anfänge: Stadt, Hof und Universität

Natürlich brachten die neuankommenden Universitätsangehörigen mit all ihren Privilegien und ihrem fremdartigen Auftreten auch viele Schwierigkeiten in die Stadt am Neckar, die noch einen sehr dörflichen Charakter hatte, - wo die Schweine durch die Gassen streunten und die Geruchsnerven der Einwohner weit mehr auszuhalten hatten als heute (wenn auch keine Verkehrsabgase). Das damalige scharfe Würzen der Speisen hing sicher auch damit zusammen, daß man den Gestank aus den Gassen beim Essen durch die Reizung der Geschmacksnerven überbieten wollte...

Das mittelalterliche Heidelberg, von dem nach den Zerstörungen von l689/93 im wesentlichen nur der Altstadtgrundriß mit den Kelleranlagen, die Türme der Alten Brücke und einige Gebäudereste übrigblieben, hatte zur Zeit der Universitätsgründung höchstens 4000 Einwohner. Es waren vor allem Handwerker, Weinbauern, Gewerbetreibende und Leute, die mit der Versorgung des Schlosses und der Hofhaltung beschäftigt waren, - z.T. auch adlige Amtsträger.

Neben der Gruppe der Stadtbürger gab es den davon abgetrennten Bereich derjenigen, die der Hofhaltung direkt zugeordnet waren und am Schloßberg mit eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit wohnten.

Und dazu kam jetzt die dritte in sich relativ abgeschlossene Gemeinschaft: Die der Universitätsangehörigen. Zu ihnen gehörten Magister und Scholaren, Lehrende und Lernende genauso wie die sich der Hohen Schule anschließenden Gewerbe der Buchhändler, Buchbinder, Pergamenthändler und Schreiber (später Drucker). Weil die Angehörigen der Universitätsgemeinschaft eine Menge Privilegien besaßen, versuchten natürlich viele, daraus Nutzen zu ziehen. Zum freien Geleit kam die Freiheit von Zöllen, Steuern und Abgaben, - aber auch die Freiheit des Kleinen Handels, z.B. mit Wein, den man einmal im Jahr akzisefrei (ohne Steuern) verkaufen durfte.

Der vom Kurfürst über die Stadtbürger gesetzte Schultheiß hatte keine Gerichtsbarkeit über Studenten, Hochschullehrer und andere Angehörige der Universitätsgemeinschaft. Wer sich in das Matrikelbuch eintrug - und das waren nicht nur Studierende, sondern auch Doktoren, Pedelle, Buchbinder etc. -, der gehörte damit zum autonomen Gerichtsbereich der Universität und unterstand in allen rechtlichen Fragen alleine dem Rektor. Diejenigen Studenten und Magister, die rechtlich gesehen Kleriker waren, unterstanden in Fragen der geistlichen Gerichtsbarkeit dem meist in Ladenburg residierenden Bischof von Worms.

Studenten (Scholaren) waren zwischen 12 und 18 Jahre alt, kamen als Studienanfänger also sehr jung in die Stadt, - auch nach 1464, als dies nicht mehr unter dem Alter von 14 Jahren möglich war. Die Aufnahme in die Universitätsgemeinschaft lag im Ermessensspielraum des Rektors, es gab keine Aufnahmeprüfung. Studenten lebten häufig in Bursen mit einem Magister zusammen, der die Aufsicht über die am klösterlichen "ora et labora" orientierte Wohngemeinschaft führte. Aus den "bursarii" leitet sich später der Begriff "Burschen" ab. Neuankömmlinge wurden oft "pecus" (=Rindvieh) genannt, was eine Anspielung auf die mangelhafte Vorbildung war.

Aber auch sonst unterschied sich das studentische Leben doch einigermaßen vom klösterlichen Vorbild, wo es im allgemeinen strenger zuging. Studenten traten bisweilen etwas großspurig in der Stadt auf, wenn sie in ihrem Scholarenmäntelchen mit Gürtel, Kapuze und einem umgehängten Degen (den der gewöhnliche Bürger nicht tragen durfte) einherkamen. Sie bekamen nicht selten recht handfesten Streit mit den übrigen Stadtbewohnern. Ihr Auftreten in den wechselnden exzentrischen Moden hob sie über das Erscheinungsbild des Bürgers hinaus. Kleiderordnungen waren nötig, um Übertreibungen zu begrenzen: Einmal wurde sogar die Länge der Schnäbel an den Schuhen, die ganz immens wurde, durch kurfürstlichen Erlaß begrenze. Aber schon der Gebrauch der lateinischen Sprache, die damals international von den Gebildeten gesprochen wurde, grenzte sie in der Stadt ab.

Die wenigsten der etwa 200 bis 300 Studenten in Heidelberg (an die 10% der Bevölkerung) studierten ernsthaft zu Ende. Viele verließen als Wanderstudenten mit allerhand fahrendem Volk die Stadt, andere brachen das Studium hier ab. Nur 12 Prozent der Studenten brachten es damals zum Magister.

Die Ausbildung an der Artistenfakultät, zu der auch der erste Rektor Marsilius gehörte, führte nach 1 1/2 Jahren zum Bakkalar und nach weiteren 1 l/2 bis 2 Jahren zum Lizensiat, der Voraussetzung für die Magisterprüfung in der Artistenfakultät. Ein Magister hatte die Lehrbefähigung in der Artistenfakultät und konnte das Studium in den oberen drei Fakultäten fortsetzen, wo er allerdings noch durchschnittlich 12 Studienjahre vor sich hatte und nur in den seltensten Fällen promovierte. Die Kosten für die Abschlußprüfung waren enorm: Unter anderem mußte während der drei bis vier Prüfungstage jeweils ein Imbiß für die Prüfer bereitgestellt werden, der "Prüfungsvorsitzende" erhielt ein Barett, Handschuhe und ein Pfund Konfekt. Anschließend mußte der "Prüfungsschmaus" für die Universitätslehrer und die Studiengenossen bezahlt werden. Insgesamt hatte man wohl mit Kosten bis zu 300 Gulden zu rechnen.

Für die Universitätslehrer galt wie für alle Geistlichen damals das "Zölibat", das heißt die Verpflichtung zur Ehelosigkeit. Die Ehelosigkeit der Geistlichen war mit der Besitz- und Machtausweitung der Kirche eingeführt worden und sollte die Institution Kirche vor eventuell vererbbaren Rechten schützen; es ging dabei wohl weniger um die Verhinderung der sexuellen Betätigung von Priestern, denn Konkubinen wurden lange Zeit geduldet. Papst Johannes XXII. (1316-1334) machte aus dieser Duldung sogar eine Einkunftsquelle für die Kirche, indem er den Priestern die Möglichkeit ließ, sich durch die Abgabe eines mit "cullagium" bezeichneten Geldbetrages eine Geliebte zu erkaufen. Universitätsangehörige, die von Kirchengeldern lebten, mußten nun lange Zeit auch ehelos bleiben. Erst 1553 gab es den ersten verheirateten Rektor.

Der Unterricht gliederte sich in Vorlesungen und Disputationen, d.h. zuerst las der Lehrer einen Textabschnitt und kommentierte ihn, dann wurde in einem Streitgespräch die rhetorische Anwendung des aufgenommenen Wissens geschult. Als letztes Ziel galt immer, den christlichen Glauben nach außen zu verteidigen, - wenn es auch eine gewisse Großzügigkeit in dem Aushalten der Spannungen zwischen Norm und Realität gab. D.h. wie auch auf der Ebene des Rechts hielt man mit äußerster Zähigkeit an den traditionellen Legitimierungen der Norm fest, während man dem konkreten regelnden Wort einigen Spielraum ließ. Interessant dürfte eine genaue Untersuchung der Einrichtung "Quodlibetana" sein, die jährlich in der Stadt durchgeführt wurde: Ein Wettstreit unter Gelehrten und Studenten zu einem beliebigen Thema. (quodlibet = etwas Beliebiges) Einmal - im 15. Jahrhundert - disputierte man sogar über die Frage der jungfräulichen Empfängnis und deren mögliche Voraussetzung. (Lag es an der organischen Unfähigkeit Josephs oder lag es irgendwie an Maria?) Die Quodlibetana waren die Höhepunkte des akademischen Jahres und dauerten oft mehrere Tage.

Der Gelehrtenstreit in der Anfangszeit der Heidelberger Universität: war allerdings auf eine recht unfruchtbare Weise von der Verfallszeit der Scholastik geprägt, einer philosophischen Richtig, die eine Synthese zwischen antikem, aristotelischem und christlichen Denken anstrebte. Dabei traten die neuen Denkströmungen gerade im konservativen Mantel auf und nannten sich "alte Lehre", während die eigentlich alte Lehre "neue Lehre" genannt wurde. Die wirklich neuen Gedanken aber entstanden in Heidelberg im ausgehenden Mittelalter nicht an der Universität, sondern eher gegen diese: Es war der von den Kurfürsten protegierte Humanismus, der Ende des 15. Jahrhunderts den geistigen Horizont des Heidelberger Geisteslebens erweiterte.