Zeit der Intrigen

Fast alle Kulturen schufen sich einen Mythos vom Überleben in einer immer auch gefährlichen Umwelt, einen Mythos, der Sinn stiftete und die Welt und die eigene Stellung des Menschen in der Welt über den jeweiligen Augenblick hinaus erläuterte.

Im Mythos der griechischen Antike war es Prometheus, der sieht, dass alle Lebewesen mit spezifischen Kräften ausgestattet sind, um zu überleben, der Mensch aber von Natur aus nackt, ohne Schuhe, ohne Decken, ohne Waffen geblieben ist. Ein Mängelwesen also, das auf Kultur (von Vorfahren übermittelt) angewiesen ist, auf Werkzeuge, auf Feuer, auf Sprache und auf Regeln für das Zusammenleben in Gruppen - denn nur in Gruppen konnten Menschen überleben.

Aber weder das Feuer des Prometheus, noch die Handwerkskunst des Hephaistos, noch die Klugheit der Athene, die Prometheus den Menschen „schenkt“, sind Hilfsmittel zum Überleben. Erst in einer letzten Stufe der Entwicklung wird der Mensch wirklich zum Menschen - und zwar erst dann, als Zeus selbst den Menschen die Staatskunst schenkt. Zeus schickt Hermes, seinen Götterboten um den Menschen „sittliche Scheu und Rechtsgefühl zu bringen, damit diese den Städten Ordnung und Eintracht stiftende Bande geben möchten.“ (Platon, Protagoras 320b-323a)

Der Mensch als physisches „Mängelwesen“ braucht also nicht nur Kultur und Technik, um Natur zu beherrschen, sondern auch eine politische Moral und „bürgerliche Tüchtigkeit“, durch die größere Gemeinschaften wie Städte (polis) überhaupt Bestand haben können. Diese politische Ordnung ist die eigentliche natürliche Ordnung des Menschen.

Von Anfang an aber waren „sittliche Scheu und Rechtsgefühl“ schon bei den Griechen der Antike gefährdet. Von Anfang an haben schlaue Trickser versucht, die anerkannten Regeln des Zusammenlebens auf egoistische Weise zu umgehen: So als die Boten des Königs Agamemnon nach Ithaka kamen, um sein Gefolge für den Trojanischen Krieg zusammenzustellen. Da stellte Odysseus sich wahnsinnig, um bei seiner Frau und ihrem neugeborenen Sohn zu bleiben. Ein allseits beliebter und kenntnisreicher Mann namens Palamedes aber durchschaute und entlarvte den Simulanten. Daraufhin schwört Odysseus Rache, kann diese aber nicht so einfach durchsetzen, denn Palamedes ist stark und überall gut angesehen, zeigt also keine Angriffspunkte. Was tun? Nur eine Intrige kann helfen, den untadeligen Palamedes zugrunde zu richten. Und genau so eine Intrige legt Odysseus nun an:

Zunächst verunsichert er Agamemnon, indem er ihm von einem Traum erzählt, in dem ihn die Götter vor Verrat gewarnt hätten - und nahelegten, der König solle sein Feldlager für einen Tag und eine Nacht an einen anderen Ort verlegen. Dieser „göttlichen“ Empfehlung kann Agamemnon nicht widerstehen - und so kann Odysseus eine Kiste Gold an der Stelle vergraben, wo sonst das Zelt des Palamedes steht. Tags darauf wird das Lager zurückverlegt und unter dem Zelt des Palamedes liegt nun der Goldschatz. Jetzt zwingt Odysseus einen Gefangenen, im Namen des feindliches Königs Priamos einen Brief an Palamdes zu schreiben, in dem dieser sich mit dem Goldschatz für verräterische Informationen bedankt. Mit diesem Brief schickt Odysseus den Schreiber los, erschlägt ihn dann außerhalb des Lagers und legt seine Leiche mit dem Brief an eine Stelle, wo er ganz sicher gefunden werden muss. Bote und Brief werden entdeckt und Agamemnon überbracht, der sich an den Traum des Odysseus erinnert und schließlich auch den Goldschatz unter dem Zelt des Palamedes findet. Palamedes gilt nun als Verräter, wird zu Tode gesteinigt - und Odysseus hat sich gerächt. Vier in sich zusammenhängende Fälschungen waren nötig, um den Ehrenmann Palamedes zu erledigen: Traum, Brief Bote, Schatz.

Nicht jede Lüge, nicht jedes Gerücht, auch nicht das bewusst gestreute, nicht einmal eine fiese Kränkung durch ein böses Wort ist gleich eine Intrige, nein, für eine Intrige braucht es einen schlauen Verursacher, der durch geeignete Informationen Energien in einem Vollstrecker (oder mehreren Vollstreckern) freisetzt, Energien, die im Sinne des Urhebers auf ein Opfer wirken. Dabei können die Informationen durchaus offensichtlich oder gar wahr sein. Der Kuss des Judas zeigte wirklich, wer von den Anwesenden Jesus ist.

Das Schema aber bleibt immer dasselbe: Ein Intrigant stiftet andere durch geschickte Informationen oder Informationsketten dazu an, sein Opfer in einer Weise zu schädigen, die ihn selbst nicht als (direkter) Verursacher in Erscheinung treten lässt. Intriganten treten in unterschiedlichen Formen auf und haben unterschiedliche Ziele. In harmlosen Fällen wollen sie nur einen kleinen Vorteil ergattern und sehen das Ende der Geschichte nicht im richtigen Zusammenhang. Nur das Opfer bleibt im Prinzip immer gleich: In seiner (oft nur vorläufigen) Verkennung der Gefahr bleibt es wehrlos, weil die Informationen ihm entweder vorenthalten werden oder es ihre Sprengkraft nur verspätet nachvollziehen kann.

Die Stärke der jeweiligen „Intriganz“ einer Information liegt darin, welche Energien sie gegen ihre Opfer freizusetzen vermag, ganz egal, ob sie verlogen, halb wahr oder gar wahr ist – z.B. bei einer unüberlegten, aber abgehörten Äußerung innerhalb der Privatsphäre (, die ja heute nicht mehr sicher ist). Je verlogener aber eine Information ist, desto peinlicher wird der Vollstrecker in die Affäre verwickelt, selbst wenn ihm (oder ihr) bewusst wird, was wirklich gespielt wird. Denn wenn ein Vollstrecker bereits erste Maßnahmen gegen das Opfer ergriffen hat, wird er (oder sie) nicht mehr als jemand dastehen wollen, der reingelegt worden ist. So kann es sogar noch sein, dass er noch zusätzliche Gründe (er)findet, um sein Handeln bis zum bitteren Ende durchzuziehen, um bloß nicht sein Gesicht zu verlieren.

In der Geschichte gibt es unzählige Beispiele von Intrigen, bei denen jemand fremde Kräfte anstiftet, die ihm gezielt gegen ein Opfer in die Hände arbeiten. Nehmen wir die Französische Revolution, an deren Höhepunkt Robespierre im Nationalkonvent gestürzt wurde. Fouché, der Intrigant, der eigentliche Strippenzieher der Verschwörung, war selbst nicht anwesend, als es Robespierre an den Kragen ging. Er hatte lediglich in den Nächten zuvor einen nach den anderen mit der Nachricht erschreckt, er stünde auf Robespierres „Todesliste“. Damit hatte Fouché aber nur von sich selbst abgelenkt, denn um seine Beseitigung wäre es Robespierre in erster Linie gegangen. Nun war Robespierre auf einmal das Opfer, die aufgeschreckte Nationalversammlung war der Vollstrecker – und der Urheber der Intrige, Fouché, hatte sich aus der Schusslinie gebracht, d.h. vor der Guillotine gerettet. Seine Waffe war eine geschickt eingesetzte Information.

Josef Stalin war selbst ein intriganter Gewaltherrscher, der die komplette Anhängerschaft Lenins, also die eigentlichen Revolutionäre Russlands, hat umbringen lassen. Er war ein sehr misstrauischer Mensch mit einem Hang zur Grausamkeit. Damit war er aber auch anfällig für intrigante Einflüsterungen. Und genau dies nutzte das nationalsozialistische Reichssicherheitshauptamt aus, das ihn mit gezielten Fehlinformationen dazu antrieb, den russischen Generalstab hinzurichten. Somit waren zunächst die roten Generäle Opfer der Deutschen, Stalin und seine Helfer waren die Vollstrecker. Auf lange Sicht aber war Stalin selbst (und die Sowjetunion) das Opfer, denn diese Generäle fehlten später im Krieg gegen Hitler.

Ein gutes Feld zur Aufarbeitung von Intrigen bietet auch das China unter Mao. In der sogenannten „Kulturrevolution“ gab es unzählige Intrigen, mit denen die verschiedensten Opfer vor allem über eine taktisch geschickt verhetzte Jugend ihr Leben verloren.

So wie hier im Großen gab und gibt es natürlich auch unzählige kleinere Intrigen – in der Art, wie sie Shakespeare im Othello-Drama beschrieben hat, wo der intrigante Fähnrich Jago, der sich durch eine Entscheidung Othellos gekränkt fühlte, diesen mit einer Reihe geschickt gestreuter Informationen dazu bringt, seine unschuldige Frau Desdemona aus Eifersucht umzubringen.

Wer jetzt aber meint, so etwas könnte in unserem aufgeklärten Zeitalter nicht mehr (oder zumindest seltener) passieren, der dürfte sich getäuscht haben. Gerade heute, im Zeitalter der Fake-News, des Internet-Mobbings, der separierten Öffentlichkeiten innerhalb von Staaten, der faulen Kredite von Banken, dem Betrug der Auto-Industrie, der gegenseitigen Beschuldigungen geradezu monströs großer Geheimdienste, also gerade heute dürfte das Potential an Intrigen ins Unermessliche gewachsen sein. Wer kann sich sicher sein, von wem zum Beispiel ein Skripal in England vergiftet wurde, wenn England selbst wie andere westlichen Geheimdienste eine Abteilung für „Zersetzung“ und Falschinformationen unterhält. Natürlich könnte auch ein in die Enge getriebenes Russland, das militärisch dem Westen unterlegen ist und zunehmend von der NATO eingekreist wurde, auf intrigante Mittel zurückgreifen und gezielt Falschinformationen streuen. Das Vorrecht der Schwächeren war es schon immer, auf List und Tücke zu verfallen. Aber wie soll ein Laie unterscheiden, wer von den großen Informationsagenten, Datensammlern und Meinungsmachern noch die Wahrheit sagt? An den großen Lügen scheint die Mehrheit bisweilen nur zu interessieren, wie sehr sie einem nützen oder schaden können. Ein allen sichtbares Beispielen ist in dieser Hinsicht heute die USA unter dem täglich twitternden Präsidenten Trump, dessen Lügen oder Halbwahrheiten seine Anhängerschaft nicht im Geringsten interessieren.

Was im Großen gilt, wo Einflussnahmen durch Heere von gewieften Mitarbeitern und Juristen verstärkt werden, gilt in der Folge auch für die Kreise der vermeintlich Schwachen, die sich in diversen Subkulturen organisieren, in einer Art von „Landsmannschaften“, in die fremde Staaten hineinregieren, aber auch in religiösen Sekten oder kriminellen Organisationen. In einigen Sektoren der Organisierten Kriminalität (OK), z.B. im Drogen- oder Menschenhandel, dürften die nichtstaatlichen Akteure sogar finanziell und technisch besser ausgestattet sein als Staaten, die für alle ihre Bürger (und nicht nur für die) einen sozialen Mindeststandard bieten müssen und für eine funktionierende Infrastruktur zuständig sind. Al Capone musste seine Leute noch komplett selbst finanzieren, heute müsste er nur den Zusatz über das Existenzminimum liefern.

Was dem Intriganten-Stadl in den demokratischen Ländern noch zuarbeitet, das ist die ultimative Waffe einer nicht mehr hinterfragten Unterstellung: Sie heißt „Verschwörungstheorie“. Damit kann man hier leicht die Aufdeckung von Intrigen aller Art verhindern oder zumindest ins Lächerliche ziehen. Denn auch Intriganten sind lernfähig, vermutlich sogar mehr als staatliche Institutionen oder eine mit Werbung dauerberieselte Öffentlichkeit. Nur zwei Hinweise mögen genügen, um das Terrain von Intrigen in der heutigen Zeit zu sondieren:

1. Die Wahl des US-Präsidenten und der damit zusammenhängende Einfluss der „Sozialen Medien“.

2. Der „Brexit“, für den sich die ungeschickte Politik unserer Bundeskanzlerin in der Flüchtlingsfrage manipulativ verwenden ließ.

Und vielleicht stellt sich ja irgendwann einmal heraus, wie die westliche Politik gegenüber der Ukraine (NATO-Erweiterung, EU-Anbindung, gezielte Ablösung von Russland) zunächst eine Intrige gegen Russland darstellte, dessen Überrumpelung in den 90er Jahren unter Jelzin nicht geklappt hatte - dann aber auch gegen die EU wirksam wurde, die an guten Handelsbeziehungen mit ihrem Nachbarn Russland interessiert sein muss. („Fuck the EU…“)

Ähnliche Fragen gibt es auch gegenüber dem Iran, einem Land, dem der Westen in den 50er Jahren aufgrund von Öl-Interessen einmal eine demokratisch gewählte Regierung gestürzt hat, dem es später den Diktator Saddam Husein mit einem Krieg auf den Hals hetzte, bis dieser dann selbst beseitigt wurde, um danach ein zerstörtes Land und ein nahöstliches Chaos zu hinterlassen. Sicherlich hat der Iran die dümmliche Politik des Westens nach dem Jahr 2003 zur eigenen Expansion in Nahen Osten ausgenutzt, wollte sich wie Nord-Korea mit Atomwaffen schützen, was langfristig fatal wäre. Dient aber die Mobilisierung antiiranischer Emotionen nicht auch als Waffenverkaufsargument an einige diktatorische sunnitische Staaten? Mit einer Verwicklung Irans in einen neuen Krieg wären womöglich noch mehr Waffen zu verkaufen.

Und wie sieht es aus mit der Einflussnahme islamischer Staaten, die diktatorisch regiert werden und heute nicht nur mit Geheimdiensten bei uns massiv vertreten sind, sondern auch mit ideologisch festgefügten religiösen Organisationen?

Zu all den Großintrigen der Politik kommen heute vermutlich noch viele mittlere oder kleine, die sich innerhalb demokratischer Staaten abspielen. Im Kleinen gibt es bisweilen innermenschliche Manipulationspotentiale, d.h. die Möglichkeit, durch gezielte Beeinflussung von Menschen über die Erregung ihres Unterbewusstseins. Z.B. wäre die ständige Selbstmord-Geste eine Intrigentechnik, um fremdes Mitleid zu vereinnahmen oder um ein gezieltes eigenes Projekt gegenüber einem Freund oder Partner durchzusetzen. Und bei geringem Selbstwertgefühl von Menschen in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit, bei Zeitarbeit, bei nur kurzfristigen Arbeitsverträgen oder auch nur erzwungenem Konsumverzicht bei gleichzeitigem extremen Reichtum um einen herum, bei all dem reicht oft schon die Einflüsterung, dieser oder jener habe etwas gegen einen – und schon ist eine wie auch immer geartete „Vollstreckung“ angestiftet. Im Zeitalter der zunehmenden digitalen Überwachung und leicht möglicher Datenfälschung dürfte dies heute leichter denn je möglich sein. Vor allem, wenn die „Vollstreckung“, wie beim Mobbing oder Stalking, in der heutigen Spaßgesellschaft, in der Langeweile als Todsünde gilt, einen enormen Spaßfaktor anbietet, könnten gut inszenierte „Vollstreckungsangebote“ leicht zum Massenphänomen werden.

Ein Beispiel für eine Intrige mit hohem Spaßfaktor dürfte folgende gewesen sein: „Mitarbeiter der Internet Research Agency gründeten […] zwei Facebook-Gruppen. Die erste hieß Heart of Texas und wandte sich gegen die angebliche Islamisierung des Bundesstaats. Die zweite nannte sich United Muslims of America und machte sich für die Bewahrung islamischen Kulturguts stark. Beide Facebook-Gruppen luden zu Kundgebungen in Houston ein und bewarben diese mit Anzeigen im Wert von gerade einmal 200 Dollar. Tatsächlich standen sich ein paar Tage vor der Präsidentschaftswahl zwei Gruppen von Texanern wütend gegenüber und beschimpften sich gegenseitig - beide ferngesteuert von ein paar Hackern aus Russland.

'Mikrotargeting' nennt sich das gezielte Ansprechen winziger Zielgruppen." (Aus: DIE ZEIT, 8.2.2018, S. 34/35)

Und wer sagt, dass die Emotionen aus der „Me-too“-Bewegung nicht auch mal für eine Intrige ausgenutzt werden könnten?

Wir leben heute in einer gegenüber dem klassischen Kapitalismus neuen Umgebung. Sie ist global, schafft immer rascher neue Konsumangebote, ist auf eine Weise abstrakt datengesteuert, die aus Arbeitskräften und Kunden Datenträger macht, die man mit Informationen steuern muss. Dadurch entsteht auch ohne böse Absichten eine Art „Überwachungskapitalismus“ (Shoshana Zuboff in „Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus“, Campus-Verlag, 2018), der den Menschen ihre Privatsphäre raubt, indem er sie auch psychologisch überall als Datenpool nutzt. Wer das Verhalten von Menschen am besten und schnellsten überwacht und steuert, der gewinnt den meisten Einfluss oder hat die besten Verkaufsargumente. Dieser Wettlauf ist systembedingt nicht aufzuhalten. Und er prägt natürlich auch die nachwachsenden „Datenträger“. Sie sehen ja, wo der Erfolg liegt – und sie sehen, wie die Großinstitutionen der alten Moralvermittler wie z.B. die katholische Kirche oder die internationalen Organisationen des Sports an ihren eigenen Ansprüchen scheitern. (Inwiefern könnten man sich z.B. einen Giovanni Infantino noch zum Vorbild nehmen, wenn dagegen ein Sepp Blatter noch als Ehrenmann erscheint?)

Dass Menschen heute mehr Freizeit genießen als früher, scheint, anders als es die Vertreter der „Aufklärung“ voraussagten, nicht automatisch den Wunsch nach Bildung zu verstärken, nach einer moralischen Vervollkommnung der Menschen, die den Austausch verschiedener Kulturen als Bereicherung sehen. Menschen als (mehr oder weniger intelligente) Datenträger im dauernden Optimierungsdruck verlieren die spezifische Neugierde, von der eine jegliche Zivilisation lebt. Bildung braucht auch Muße und nicht nur Nervenkitzel und optimale Anstrengung in der Selbstdarstellung oder Selbstinszenierung, wie sie durch einen „Überwachungskapitalismus“ aufgezwungen werden, den man einfach hinnimmt. Ohne den Bildungswunsch, der bereits in Kindern geweckt werden muss, werden sich Menschen, die der globalen Konkurrenz aus den verschiedensten Gründen wenig entgegenzusetzen haben, in rückwärtsgewandte ideologisch geprägte Träume verlieren und z.B. nationale Schutzräume verlangen oder rassistische Ideen von alter Größe verfolgen.

Dabei hätten wir heute eine Unmenge an positiven Sinnangeboten im Umweltschutz, im Nahraum des Vereinssports und auch in religiösen Einrichtungen zu finden, wenn sie sich von offensichtlichen Fehlentwicklungen trennen würden – wie z.B. in der katholischen Kirche vom Zölibat, der organisatorischen Intransparenz und der Bevorrechtigung von Männern gegenüber Frauen. Wertschätzung von Menschen entsteht nur dann, wenn es sichere Privatsphären und überschaubare Nahräume gibt, in denen man sich immer wieder (auch psychisch) reorganisieren kann. Der „Überwachungskapitalismus“, der heute unkontrolliert und global weiterwuchert, lässt dies nicht zu, er wird zum Feind der „Menschenrechte“, die bald nur noch Alibifunktion haben. Nicht zufällig wird er auch zum Spielfeld von großen und kleinen Intrigen, die heute geradezu als Massensport betrieben werden und immer mehr Menschen in ihren Bann ziehen, weil ihnen keine demokratischen Werte in der Sinngebung mehr das Wasser reichen können. Der Reiz einer Lüge, einer kleinen Intrige ist nicht zu unterschätzen. Ohne Kritik wurde z.B. in der Lehrerfortbildung eine Veranstaltung mit dem Titel „Wir fälschen eine Rede“ angeboten, an der ich am 21.06.2016 teilgenommen hatte. Eine Aussage einer bekannten Politikerin wurde hier durch kleine Veränderungen in ihr Gegenteil verkehrt. Das war noch keine Intrige, weil es kein Opfer gab, denn die Fälschung wurde wieder gelöscht. Aber wie viele Fälschungen bleiben bestehen, weil offensichtliche Lügner entweder Spaß an Intrigen haben oder „Vollstrecker“ nicht aufgedeckt werden wollen, weil sie einen Gesichtsverlust fürchten? Vielleicht müssen wir aber auch erst durch eine Phase der menschlichen Entwicklung durchgehen, in der Intrigen normal werden, durch eine Phase der Verdinglichung der Menschen als Datenträger, bis wir am Ende in einer Art Marionettenleben landen und erkennen, dass wir die falsche Richtung eingeschlagen haben. (Kleist lässt grüßen: http://gutenberg.spiegel.de/buch/-593/1