Die "Mittelschicht" (Diskussionsthemen)

Diskussionsthemen (vor der "Corona-Krise")

1. Die „Mitte“ und die „Mittelschicht“.

Die Mittelschicht lässt sich in Deutschland – und generell im „Westen“ in zwei Kategorien einteilen:

a. Die intellektuelle, „gebildete“ Mittelschicht, die in Berufen wie Lehrer, Theologen, Historiker, Soziologen, Juristen, Journalisten, Soziologen usw. beschäftigt ist. Ausnahmen sind, wie überall, möglich, aber im Durchschnitt stimmt diese Annahme wohl.

b. Die „pragmatische“ Mittelschicht, die in der Landwirtschaft, in hand­­werk­lichen Berufen, in der Industrie und generell in eher technischen Berufen beschäftigt ist. Zu letzteren Berufen zähle ich auch einen Großteil der Angestellten im Digitalbereich.

2. Theorie- /Ideologie-/ Wissenschaftsorientierung – versus Handlungs­orientierung.

Die an Bildung und Wissenschaft orientierten Schichten hatten im Zuge der 60er und 70er Jahre eine gewisse Aversion gegen Technik und technische Ausbildung, was bis heute nachwirkt. Das hat lange Zeit dazu geführt, dass viele glaubten, es reiche schon, Texte zu produzieren und Gedanken zu entwickeln und diese zu veröffentlichen. Und das unabhängig von der Frage, ob diese Gedanken in der Lage sind, Entscheidungsträger zu beeinflussen. (Einwand: Handlungs­leitend war jedoch der Bereich der „Werbung“, genauer gesagt, der Produktwerbung. Dieser Bereich bildete gewissermaßen eine Aus­nahme. Man muss ihn gesondert betrachten!)

Nach dem Ende der Aufbruchslage in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts etablierte sich bei den Intellektuellen eine Art „Als-Ob-Haltung“. Es entwickelte sich ein handlungsleitender Stolz dahin­ge­hend, dass man „richtige“ Worte und Bilder produziert. Dafür wurden dann Preise und andere Formen der Anerkennung (Titel, Posten etc.) ver­geben. Erst im Zuge der Umweltproblematik steigt hier das Inter­esse an Wissenschaft und Technik wieder. Vor allem im Bereich der digitalen Technologien, die aber (bis auf den Bereich der „Werbung“!) gegenüber den Sozialwissenschaften tendenziell betriebs­­blind sind. Durch die Verschulung der Universitäten wird dabei generell eine starke Betriebsblindheit oder auch „Fach­idio­tentum“ erzeugt.

3. Jugend und die Kraft der großen Ideen.

Je länger ein soziales und politisches System hält und funktioniert, desto mehr entwickelt sich ein Trend zur Verkrustung und Büro­kratisierung. Je größer der Stolz der älteren Generation auf ihre frü­he­ren Leistungen ist (ob nur eingebildet oder nicht), desto enger er­scheint der Spielraum, den gedanklich und auch praktisch die Jugend sieht. Alles ist schon da und funktioniert einigermaßen. Die gedank­li­che und rechtliche Basis von Demokratien liegt bis heute wie selbst­verständlich in dem Versprechen individueller Sicherheit und ruht auf einer gut ausgebauten Konstruktion von Menschenrechten, die im Westen einen festen Platz neben der Religion erworben haben. Die Menschenrechte hatten immer eine große mobilisierende Kraft, wenn es gegen dumm-autoritäre Bevormundung durch verkrustete Eliten oder wenn es gegen Diktaturen ging. Als große Idee in einer globalen und multikulturellen Welt, die von Umweltproblemen, Armuts­migration und Kriegen überfordert ist, reichen die Menschen­rechte jedoch nicht mehr aus, um euphorische Handlungsorientierung und Begei­sterung bei der Jugend zu provozieren. So wie im 19. Jahr­hun­dert die Begeisterung an die rasch aufkommende analoge Technik die Jugend begeistert hat (vor allem nach dem Scheitern der 1848er Revo­lution), so begeistert heute eher die digitale Technik. Sie verspricht nicht nur handlungsleitend im industriellen und handwerklichen Bereich zu sein, sondern auch im sozialen Bereich, wo es ja u.a. immer um „Menschensteuerung“ geht. Jetzt aber weniger vermittelt über ideologische Systeme, an die man „glauben“ soll, sondern ähnlich direkt, wie man eben auch digitale Systeme „program­miert“ und Abläufe steuert.

Wenn jetzt immer mehr unterschiedliche „Kulturen“ „am Tisch“ sitzen und zugleich die Tischregeln mitbestimmen wollen, so kommt es zwangsläufig zu Auseinandersetzungen darüber, wer sich jeweils mit seinen erworbenen Regeln durchsetzen kann. Manchmal gibt es Kompromisse, manchmal aber auch nicht. Wer setzt sich also durch? Bisher war es oft so, dass der „Stärkere“ oder der „Schlauere“ sich durchsetzt. Das könnte auch heute so sein.

Auch wenn offiziell im Sinne der Demokratie nach Kompromiss­lösungen gesucht wird, auch wenn offiziell die Regeln der Zivilisation anerkannt sind, so kann es jederzeit möglich sein, dass hinter der offiziellen Bühne eine zweite Bühne entsteht, eine Art Hinterbühne, wie man sie aus der Organisierten Kriminalität oder - nach dem Aufkommen des internationalen Terrors - aus der Welt der stark ge­wachsenen Geheimdienste kennt. Und es erscheint mir denkbar, dass heute eine derart starke Verunsicherung im pragmatischen Teil des Mittelstandes und der nach Sinn suchenden Jugend entstanden ist, dass infolgedessen ein wachsender Teil der Bürger seine Orientierung auf einer Hinterbühne sucht, da die Vorderbühne häufig hilflos wirkt. Das gilt vor allem dann, wenn die Vertreter der Vorderbühne aufgrund fehlender starker Persönlichkeiten in Problemsituationen unent­schlos­sen und ansonsten langweilig wirken. Wer will als junger Mensch schon lange Partei- oder Vereinssitzungen erleben, bei denen haupt­sächlich interne Probleme in gähnend langweiliger Atmosphäre hin- und hergewälzt werden!

4. Die Stärke von Psychopathen.

In allen Bereichen der Wirtschaft und der Wissenschaft braucht es starke Persönlichkeiten. Die meisten sind moralisch gefestigt oder akzeptieren zumindest die Regeln der jeweiligen Zivilisation, die sie als „natürliche Umwelt“ oder sagen wir als „zweite Natur“ hinnehmen. Innerhalb der Eliten wird es aber immer auch Psychopathen geben. Wenn man annimmt, dass seit Menschengedenken in allen Gesell­schaften auf 150 Menschen ein Psychopath kommt, dann dürfte das auch heute, in zivilisierten Gesellschaften, nicht anders sein. Dieser Menschentypus war offensichtlich für den Erhalt der Gruppen in Krisenzeiten, in Kriegen oder Notsituationen überlebenswichtig, da er weniger als der Durchschnittsmensch von „hemmenden“ Gefühlen aus­gebremst wurde. Und auch in Friedenszeiten braucht man diesen Typus, um unangenehme, aber wichtige Entscheidungen durch­zu­setzen. Gefährlich wird dieser Typus nur dann, wenn er in seiner Kindheit und Jugend in verwahrlosten Umgebungen aufwächst und infolgedessen die Regeln der Zivilisation für sich ablehnt. In unüber­sichtlichen Lagen wie heute können Psychopathen eine starke Attrak­tion für verunsicherte Menschen oder Menschen in bio­gra­phischen Umbruchsituationen (Jugend, Arbeitslosigkeit, Rollen­un­sicherheit aller Art) aufweisen. Leider besteht heute die Gefahr, dass die Attraktivität von Psychopathen in den dunklen Rändern der Gesell­schaft wächst und sich dann in noch zivilisierte Regionen ausbreitet.

Ein Weg, wie heutige Psychopathen oder auch einfach macht­ge­trie­bene Personen ihren Einfluss erweitern können, verläuft z.B. über die Aneignung der neuesten Entwicklungen in der digitalen Über­wa­chungs­technik und über die dadurch sich ergebenden Manipulations­möglichkeiten. Wer über einen ausgeprägten Machtinstinkt verfügt, weiß die Techniken, die von begabten Wissenschaftlern oder be­geisterten Technikern ausgedacht werden und dann auf den Markt kommen, oft auch im schlechten Sinne zu nutzen.

Es ist für die demokratische Öffentlichkeit entscheidend, hier alles dran­zusetzen, ebenfalls auf dem aktuellen Stand des Wissens zu bleiben – auch im Bereich der militärischen und geheimdienstlichen Techno­logien, für die sich immer auch die Organisierte Kriminalität interessiert.

5. Strafen als eine Form der Menschensteuerung.

Jeder kennt den Spruch, der leicht gegen Rechtsbeugung ins Feld geführt wird: „Die müssen das … spüren!“ Meist ist bei uns dabei an die Höhe der Geldstrafe gedacht. Oder aber bei Jugendlichen an sozial-nützliche Arbeit, an Resozialisation. Aber auch das Moment der „Abschreckung“ spielt eine Rolle. In einem anderen kulturellen Zusam­menhang, vor allem aber an den Rändern der Zivilisation, mag dabei aber auch an die Rechtfertigung von Folter und – wie bei der STASI nach 1973 – an die Folterforschung gedacht werden. Statt auf individuelle Menschenrechte, wie wir es im Westen gewohnt waren, bezieht sich die Fantasie im autoritären Denken heutiger Zeit auf „individuelle Menschensteuerung“. Analog zur personalisierten Medi­zin als neueste Errungenschaft der Wissenschaft bezieht man sich in bestimmten Kreisen auf personalisierte Folter als individuelle Strafe – angepasst an Körper und Geist des jeweiligen Delinquenten. Um so etwas umzusetzen, muss man die modernen Gesellschaften aber quasi „umprogrammieren“. Nicht mehr die individuellen Menschenrechte mit Ansprüchen wie „körperliche Unversehrtheit“, „Privatsphäre“ usw. dürfen als handlungsleitende Maximen gelten, vielmehr geht es um die Durch­setzung von Funktionalität und Effektivität. Wozu diese „Effek­ti­vität“ am Ende dienen soll, ist in einem solchen Denken offen. Menschen werden jedenfalls als eine Art programmierbare Biocom­puter betrachtet, die unter Dauerbeobachtung stehen und lediglich die richtigen Steuerbefehle zu erwarten haben. (Gibt es hier etwa eine Brücke zwischen dem ganz normalen mafiösen Denken und den digitalen Zwangsfantasien, wie sie in autoritären Systemen wie heute – nicht nur - in China oder in Nordkorea auftauchen?)

6. Sind Menschen im Kern „gut“ oder „böse“?

Geht man – wie ich – davon aus, dass Menschen im Kern gut sind, dann sollte man eher Strukturen in der Arbeitswelt und im Sozialen verstärken, die das Gut-sein, Rücksichtnahme und Solidarität fördern. In diese Richtung sollte jeden­falls die Fantasie der Menschen gelenkt werden.

Geht man dagegen davon aus, dass der Mensch im Kern „böse“, egoistisch, hinterhältig und gemein usw. ist, dann muss man die Kontrollen, die Überwachung und die Drohung mit Strafen verstärken. Gewalt ist dann wichtig zur Einhegung des „Bösen“.

Bei der Entscheidung für das Eine oder das Andere spielt die jeweilige Erfahrung (in Erziehung, Schule, Arbeitswelt, aber auch die jeweilige Zeitlage, in die man hineingeboren wird) eine entscheidende Rolle. Menschen haben überall auf der Erde gelernt, in Großgruppen, die über eine Horde (z.B. wie bei den Schim­pansen) hinausgehen, zu leben. Dabei stellten sie fest, dass es Regeln der „Zivili­sation“ wie Rücksichtnahme, Zusammenhalt, Anerkennung und Gemein­sinn braucht. Auch die Sicherheit der Einzelnen musste garantiert sein, damit sie Vertrauen fassen und ihre Talente entwickeln können. Das Wissen darüber hat sich in allen Kulturen in der einen oder anderen Form eingegraben, ist Teil der Überlieferung geworden. Schon immer war es Aufgabe der Familie, der Schule (der Lernwelt) und der Arbeit, daran zu erinnern und das Wissen an die Nachkommen weiterzugeben. Oft hat hierbei die Religion in der einen oder anderen Form mitgeholfen.

In Kriegszeiten und bei einer lange anhaltenden Dik­ta­tur brechen jedoch die zivilen Gesetze und Überlieferungen zusammen und es besteht die Gefahr, dass die Regeln der Zivilisation ausgesetzt oder (zeitweise) verlassen werden. Das dabei entstehende Chaos führt aber meist wieder zu der Einsicht, dass es sich besser in einer zivilisierten Gesellschaft lebt. Das Pendel schlägt dann zurück in die andere Richtung. Dafür braucht es aber integre Personen, die trotz allem Leid wieder an das Gute im Menschen glauben und leitende Positionen einnehmen (z.B. über Wahlen oder Ko­ope­rationen inner­halb der noch intakten Eliten.) Das war m.E. nach dem Zweiten Welt­krieg in West­deutschland so – wenn auch mit einigen Ausnahmen. Die „Guten“, diejenigen, die an das Gute im Menschen glaubten, wurden durch die Siegermächte vor dem am Boden liegenden, aber immer noch vor­han­denen Mob geschützt und an die Schalthebel der Macht gebracht. Im Kern bös­ar­ti­ge Menschen, wie sie zuvor an der Macht waren, würden nämlich immer an das Böse im Men­schen glau­ben und weiterhin entsprechende Zwangsregeln schaffen – inklusive der dazu pas­senden Korruption... „El ladron jusga por su condicíon!“

Nicht nur Kriegszeiten oder Diktaturen können zum Zusammenbruch oder zur Abschwächung zivilisatorischer Errungenschaften führen. In längeren Friedenszeiten kann es passieren, dass die Gesetze des zivilen Zusam­men­lebens für so selbstverständlich genommen werden, dass man auf ihre Ein­haltung in den verschiedenen Institutionen weniger achtet und dem Egoismus oder dem schrankenlosen Hedonismus zu viel Raum gibt (als Beispiel nehme ich hier einige Ent­wicklungen im sogenannten „Neo­liberalismus“ der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts). Oder aber man legt zu wenig Wert auf das Erlernen der Rück­sichtnahme, wie es m.E. in den antiautoritären Erziehungs­konzepten der 60er und 70er Jahre zu sehen war. Erst recht aber die Ideale der Werbe-Welt („Hauptsache, du hast Spaß!“ usw.) schwächen indirekt die Anstrengungen und Mühen beim Erhalt der Zivi­lisation. Und dabei werden gerade die Eigenschaften verstärkt aufkommen, die den Eindruck erwecken, der Mensch sei im Kern böse, egoistisch, unsozial und betrügerisch.

Kommt es im Zuge der weltweiten Migration zur Konkurrenz verschie­dener Kulturen und verschiedener Erziehungskonzepte, dann ist darauf zu achten, dass es schon früh, d.h. in der Kindheit nicht zu starken Konflikten und Missverständnissen kommt. Z.B. können heute stark patriarchalische Kulturen in Konflikt geraten mit Kulturen, in denen Männer und Frauen gleich­berechtigt sind. Frauen werden in manchen Kulturen als minder­wertig und ohne Verschleierung als zur Sünde verlockend betrachtet. Dahinter steckt m.E. ein negatives Menschenbild: Die Frau verführt zur Sünde – und der Mann kann sich nicht beherrschen. Auf lange Sicht wird sich m.E. die Gleich­be­rech­tigung zwischen Mann und Frau weltweit durchsetzen. Das wird aber nicht ohne einen gewissen Druck auf die Träger der Sozialisation geschehen: Kindergarten, Schule, Uni­ver­sität und Arbeitswelt.

Sollte sich der Trend zur Migration in großem Maßstab fortsetzen, wie wir ihn heute erleben, müssen sich demokratische Gesellschaften auf kulturelle Konkurrenz einstellen. Weniger als früher ist heute selbstverständlich. Wessen Fantasie z.B. über lange Zeit durch eine Kultur der Gewalt geprägt war, der wird zumindest versucht sein, sich auch in seiner neuen Um­gebung nach „Part­nern“ umzuschauen, die für gewalthaltige Lösungen von Problemen zu ge­win­nen sind. Demokratische Gesellschaften sollten solche Entwicklungen erkennen und rechtzeitig gegensteuern.