Ein netter Kerl (Beispiel, Mittelstufe)

Textinterpretation: „Ein netter Kerl“ von Gabriele Wohmann

In der 1978 veröffentlichten Kurzgeschichte „Ein netter Kerl“ von Gabriele Wohmann geht es um die vorschnelle Beurteilung von Personen anhand ihrer äußeren Erscheinung und des ersten Eindrucks.

Rita, die Hauptfigur der Geschichte, hat ihrer Familie einen Mann vorgestellt, ohne zu sagen, dass dieser ihr Verlobter ist. Während der Vater den Mann zum Bahnhof fährt, machen Ritas Geschwister und die Mutter sich über dessen äußere Erscheinung lustig und lästern darüber, dass er „so fett, so weich, so weich“ (Z. 21) sei. Als der Vater zurückkommt und den Mann auch noch als „so ängstlich“ schildert, steigert sich das Lästern und Lachen über den Mann so lange, bis Rita erwähnt, sie habe sich mit diesem Mann verlobt. (Z. 63) Daraufhin wird der Familie ihr vorheriges Verhalten peinlich und aus dem abfällig bewerteten „fetten“ Mann wird auf einmal „ein netter Kerl“ (Z.74), was ja auch bereits im Titel der Kurzgeschichte angedeutet ist.

Wieso ist diese vor über 30 Jahren veröffentlichte Kurzgeschichte auch heute noch interessant? Was könnte sie uns heute noch sagen wollen und wie schafft es die Autorin, mich durch die Schilderung eines kurzen Lebensausschnittes einer Familie zu beeindrucken? Das sind die Fragen, die ich mir nach der ersten Lektüre des Textes gestellt habe.

Als Leser (Leserin) der Geschichte werde ich durch zwei Hyperbeln, also durch starke sprachliche Übertreibungen sofort in die offensichtlich dramatische Handlung verwickelt. Nanni, die Schwester von Rita, der Hauptperson dieser Geschichte, hat offensichtlich „wahnsinnig gelacht“ (Z.1) über einen Mann, den sie „entsetzlich“ (Z.3) findet. Sie weiß genauso wenig wie ihre Schwester Milene oder die Mutter, dass der Mann, den der Vater gerade zum Bahnhof fährt, dieser abfällig beurteilte Mann in Wahrheit der Verlobte von Rita ist, also bald zur Familie gehören könnte. Nanni verstärkt ihr negatives Urteil noch durch Vergleiche. Der Mann sei „weich wie ein Molch, wie Schlamm“ (Z.10), und später, auf dem Höhepunkt der Geschichte, kurz bevor Rita den Mann als Verlobten vorstellt, nennt sie ihn sogar „die große fette Qualle“ (Z. 58), was als Metapher, als Sprachbild, für mich wie ein Ausdruck von Ekel wirkt. Gegen die rasch geäußerten negativen Eindrücke von Nanni wirken die Einwände von Milene, der Mann habe „was Liebes“ (Z. 14), was durch die Mutter zaghaft bestätigt wird (Z. 16), harmlos oder besser: hilflos. Denn Nanni gewinnt sofort wieder die Oberhand, indem sie betont, sie fände ihn, wie Milene, „auch nett“ (Z. 32), sie könne ihn immer ansehn und sich ekeln (Z.33/34). Damit wird der Eindruck von Milene auf drastische Weise negativ bewertet. Als dann der Vater, der den fremden Mann wohl zum Bahnhof gebracht hat, zurückkommt und erwähnt, er fände den Mann „so ängstlich“ (Z. 37), diesen Eindruck sogar noch unterstreicht, indem er ihn wiederholt, mischt sich Rita mit dem Hinweis ins Gespräch ein, der Mann lebe „mit seiner Mutter zusammen“ (Z. 40). Diese Aussage erhöht aber nur den derben Spaß der restlichen Familie, es „platzten alle heraus“ (Z.41) – und das Lachen wird auch nicht durch die Erläuterung Ritas, der Mann kümmere sich wohl um seine kranke Mutter (Z.43/44) abgeschwächt, im Gegenteil, das „Lachen schwoll an“ (Z. 45). Einmal in Gang gesetzt, lässt sich das Lästern über eine nicht anwesende Person offensichtlich kaum noch bremsen. Der Erzähler hält sich weitgehen raus, er wertet nicht auf direkte Weise. Er schildert die Stimmung und charakterisiert die Personen durch Dialoge, wodurch die Situation wie ein Ausschnitt aus einem Drama wirkt. Dennoch wird erkennbar, dass Rita innerlich aufgewühlt ist. So, wenn es in Z. 24/25 heißt, sie „hielt sich am Sitz fest. Sie drückte die Fingerkuppen fest ans Holz.“ Und in Z. 42/43 lesen wir: „Das Holz unter Ritas Fingerkuppen wurde klebrig.“ In dieser scheinbar neutralen Beschreibung drückt sich für den Leser aus, unter welcher Anspannung Rita steht.

Sie macht ihrer Familie keinen direkten Vorwurf, als diese sich zunehmend ins Lästern über den abwesenden Mann reinsteigert, sie kippt die Stimmung ganz einfach mit dem Satz: „Ich habe mich verlobt mit ihm.“ Nun sitzen die Lästerer alle „gesittet und ernst und bewegten vorsichtig Messer und Gabel.“ (Z. 69/70) und als Rita ihrer Schwester Nanni den Vergleich „mit der Qualle“ (Z. 72) ins Gedächtnis ruft, bleibt diese stumm – und der Vater findet nun, der Mann sei „ein netter Kerl“, womit der Erzähler hier indirekt auf den Titel der Geschichte verweist, und die Mutter akzeptiert den Verlobten nun als „menschlich angenehm“ ( Z. 77), als „Familienmitglied“ (Z. 78/79). Rita sieht „alle behutsam dasitzen“ (Z. 82) mit roten Flecken in den Gesichtern, die wohl noch von dem lauten Lästern herrühren, und mit gesenkten Köpfen (Z. 84/85). Die Peinlichkeit der Situation zeigt sich in dieser scheinbar neutral geschilderten Schlussszene, die mit dem Nachtisch der Familie endet.

Ich habe mich anfangs gefragt, was uns diese Geschichte heute noch sagen kann. Sie soll uns wohl verdeutlichen, wie peinlich die vorschnelle Bewertung eines Menschen aufgrund seines äußeren Aussehens enden kann. Das dürfte die Botschaft sein, die Gabriele Wohmann im Jahre 1978 den Lesern dieser Kurzgeschichte vermitteln wollte. Meiner Ansicht nach ist ihr dies gut gelungen, gerade weil sie diesen kleinen Ausschnitt aus dem Leben einer Familie schildert, ohne dass sich ein Erzähler belehrend oder wertend einmischt. Jeder kann den Vorfall selbst bewerten – und für mich ist es offensichtlich, dass solche Vorfälle auch heute noch vorkommen können. Ja, ich denke, dass so etwas heute noch öfter als früher vorkommt, wie man an der Zunahme von Mobbing in Schulen, in Betrieben und vor allem über das Internet sehen kann. Es gibt immer wieder Menschen, die greifen mit einseitigen und abfälligen Beschreibungen in das Leben anderer Menschen ein, die dann runtergemacht und zum Opfer werden. Meist haben diese keine Gelegenheit, sich zu wehren und zu rechtfertigen. Viele scheinen heute offenbar regelrecht Spaß daran zu finden, ein „Opfer“ zu suchen und dieses dann in einer Gruppe oder öffentlich bloßzustellen. Und wer hat schon den Mut, das Bild eines nicht anwesenden „Opfers“ so wie Rita wieder zurecht zu rücken? Das erfordert eine gehörige Portion Mut. Im realen Leben gehen Lästereien nicht immer so gut aus wie in der Kurzgeschichte von Gabriele Wohmann.