Künstliche Feindschaften

Künstliche Feindschaften

Natürliche Feinde gibt es, seit es Raubtiere gibt, die Pflanzenfresser oder auch andere Raubtiere jagen. Menschen, also wir, sind Raubtiere. Vielleicht nicht mehr in freier Natur, also da, wo man in alten Zeiten immer auf der Hut sein musste, weil das Gesetz von Fressen und Gefressen werden regierte, nein, wir züchten das, was wir früher erjagen mussten in begrenzten Räumen, in Herden oder, immer häufiger, in Ställen. Wir sind Züchter. Unsere letzte Züchtung, nachdem wir uns die Erde weitgehend untertan gemacht haben, sind wir selbst. Aber darüber später.

Gehen wir zurück in die Geschichte, nicht in die Vorgeschichte, über die wir nicht so viel wissen, sondern in die Zeit, aus der wir schriftliche Berichte haben.

Und da fällt auf, dass es von Anfang an Feindschaften gab, Feindschaften zwischen Menschen. Ein Stamm konkurriert mit anderen um fruchtbaren Boden oder um Weidegebiete. Nehmen wir an, beides sei begrenzt. Dann entstünde aus der Konkurrenz heraus eine Notlage, aus der sich nur der Stärkere oder der Schlauere, der Gewitztere durchsetzen kann. Einer (oder eine) wird Gründe finden, die eigene Seite, die eigene Gruppe kampfbereit zu stimmen. Damit eignet er sich zum Anführer des Stammes, der sich durchsetzen konnte.

Innerhalb von Gruppen, die von Anführern geführt wurden, entstehen früher oder später Konkurrenzkämpfe um die sogenannte „Hackordnung“ – sicherlich differenzierter als auf dem Hühnerhof, denn der Mensch verfügt über weitaus mehr graue Zellen als Hühner. Und diese graue Zellen werden nun auch in der Auseinandersetzung um Statusfragen eingesetzt. Spielerisch in der Kindheit, ernster im Erwachsenenalter. Wenn in Kinder- und Jugendbanden oft körperliche Stärke eine entscheidende Rolle spielt, dann bei Erwachsenen in der Regel eher psychische Stärke und psychologisches Geschick. Dabei zeigen neuere Studien, dass die größte Willensstärke, gepaart mit taktischem Geschick, nicht selten bei Menschen zu finden ist, die wir heute „Psychopathen“ nennen dürfen. Sie lassen sich, haben sie erst einmal ein begehrenswertes Ziel, Geld oder Macht, für sich gefunden, kaum noch durch störende oder gar hemmende Gefühle ablenken. Moralische Standards lassen sie für sich nur insofern gelten, als sie mit ihnen wie in einem Spiel zur Selbstdarstellung umgehen. Ein Gewissen, wie es der zivilisierte Otto-Normalmensch kennt, greift bei ihnen nicht handlungssteuernd ein.

Am freiesten können solche mehr oder minder psychopathischen Machtmenschen sich in Kriegen entfalten, also da, wo die Regeln der Zivilisation weitgehend außer Kraft gesetzt sind. Dort können sie sogar zu Helden werden und ihrer Gruppe ganz real dienen, sie zu Siege führen, wo andere die Lage beinahe aussichtlos sehen.

Welche Strategien und Taktiken lassen sich nun bei diesen Machtmenschen im normalen Leben, im Frieden also, beobachten? Zunächst einmal schaffen sie es, im eigenen Lager Anhänger zu erzeugen, diese zu beeindrucken. Sie sind, selbst wenn sie charakterlich zuweilen wahre Monster sind, dennoch in der Lage, charmant, einfühlsam und zuvorkommend zu wirken. Und mit sicherem Blick erkennen sie Ängste bei ihren Mitmenschen, um diese dann für sich auszunutzen. Sie brauchen ihre jeweiligen Rollen nicht zu spielen, in dem Moment, wo es für sie nützlich ist, scheint es, als würde diese Rolle mit ihnen spielen, sie wirken so überzeugend, dass sie auch andere überzeugen können. Sie erkennen in den Reaktionen der anderen, was diese, ohne es zu wollen, bereits in Sekundenbruchteilen an Mikromimik von sich geben. Und genau dadurch gelingt es ihnen, Gegner oder Konkurrenten in den eigenen Reihen zu erkennen und rechtzeitig auszuschalten. Dafür brauchen sie meist keine direkte Gewalt, denn sie besitzen ein Intrigentalent, das es ihnen erlaubt, durch Gerüchte und Inszenierungen aller Art künstliche Feindschaften zu erzeugen. Die Fähigkeit, „künstliche Feindschaften“ zu erzeugen, wurde mit der Zeit Standardrepertoire nicht nur von Psychopathen, sondern auch für jede Art von Herrschaftssicherung von Menschen über Menschen, vor allem dann, wenn es gegen „Fremde“ geht, die es zu unterwerfen gilt. Das hatten die Vertreter beispielsweise des englischen Imperialismus im 19. Jahrhundert und in den Anfängen des 20. Jahrhunderts verstanden, als sie ihre Kolonien durch „Teile und herrsche“ regierten, künstliche und willkürliche Verwaltungsgrenzen schufen und damit dafür sorgten, dass die eingeborenen Stämme in Afrika oder Asien sich gegenseitig in Schach hielten.

Aber nicht nur die Engländer taten dies. Alle, die zahlenmäßig größere Volksgruppen beherrschen wollten, gingen so vor. Und jeder Mafia-Boss, der ja kein festgeschriebenes Rechtssystem hinter sich weiß, kennt diese Spielregeln: Schaffe „künstliche Feindschaften“, denen gegenüber du dich als freundlicher oder neutraler Dritter profilieren kannst, der über allem steht und möglicherweise als einziger Sicherheit garantieren kann.

Ist diese Herrschaftstaktik heute ausgestorben, weil wir in einem Rechtsstaat leben, in dem jeder den anderen respektiert oder als Gleicher unter Gleichen vom Können der anderen profitiert? Wohl kaum. Denn unter der Decke der Rechtsgleichheit werden, je nach Zeitlage, immer wieder auch Herrschaftsansprüche entstehen, die sich neben dem Recht und neben der (langfristig entstandenen) zivilisatorischen Moral entwickeln, die da lautet: "Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu!“.

Mag sein, dass sich exklusive Machtansprüche über den Einsatz von Geld entwickeln, mag sein, dass machtgierige Menschen religiöse Systeme als Herrschaftsmittel ausbeuten, mag sein, dass sie offene oder versteckte Gewalt benutzen, um sich Schwächere gefügig zu machen. Das alles muss sich mehr denn je vor der Weltöffentlichkeit rechtfertigen. Aber dass die friedliche Zeit in Westeuropa nach dem Ende des „Kalten Krieges“ heute beendet ist und neue Gefahren auftauchen, das spüren wir heute immer öfter.

Das liberale, marktwirtschaftliche Modell beruht zwar auf der uralten Weisheit, dass die Kreativität und der Fleiß von Menschen durch eine starke Macht geschützt werden müssen, da nur so genügend Zeit für Arbeit, Nachdenken, Muße und Forschung bleibt. Die Macht, die die erforderliche Sicherheit für eine möglichst große Zahl von Menschen bieten kann, ist der Rechtsstaat. Wir sind meist deshalb erfolgreich, weil wir nicht in der permanenten Furcht vor Überfällen, Einbrüchen, Raub und Totschlag leben müssen. Aber der Egoismus vor allem von kurzfristig agierenden Psychopathen, die in der Lage sind, Gefolgschaften zu organisieren, wird bestehende Vertrauenssysteme, also Rechtsgleichheit, immer wieder zerstören – oder dies zumindest so lange versuchen, bis es stärkere Persönlichkeiten gibt, die für das Recht eintreten – oder bis eine Katastrophe so lange anhält, dass alle nur noch den Wunsch verspüren, wieder in garantierter Sicherheit zu leben, egal wie. So war das jedenfalls am Ende des 30-jährigen Krieges.

Ein Angriff auf unsere heutige Zivilisation kommt m.E. nicht von einzelnen Bombenlegern oder religiösen Fanatikern. Alle großen Religionen haben aus dem Missbrauch ihrer Systeme insoweit gelernt, dass sie im Prinzip zur Völkerverständigung beitragen könnten. (Sie tun dies allerdings oft nicht mit genügend Großherzigkeit und vermischen bisweilen Stammesdenken mit dem universalistischen Ansatz ihrer jeweiligen Religion). Die wahren Feinde unserer Zivilisation könnten aus den Machtzentralen von Geheimdiensten und ihnen zugeordneten privaten Firmen kommen. Sie sind dem kritischen Blick der Öffentlichkeit entzogen – und benutzen den technischen Fortschritt in den personalisierten Techniken der digitalen Welt und der Mikrowellentechnik, um am Rechtsstaat vorbei ein Machtmonopol zu errichten, gegen das es möglichst keinen Widerspruch mehr gibt, weil alle jederzeit sichtbar sind und ihre Sichtbarkeit als Gewinn erleben: Wir sind sichtbar im Kaufverhalten, sichtbar im Bewegungsprofil, sichtbar in den Freund- und Feindschaften.

Und genau hier zeigt sich ein wunder Punkt in der westlichen Welt: Im Alltag der Menschen tauchen auch im Rechtsstaat immer wieder Aggressionen auf, sei es unter gleichaltrigen Jugendlichen (- vor allem bei drohender Arbeitslosigkeit), sei es im Büro oder in der Familie. Dies wird man nicht verhindern können, denn Menschen sind keine Engel. Also gilt es, diese Aggressionen zu kanalisieren. Durch Aufklärung und Erziehung kann dies nicht immer gelingen, auch nicht durch mediale Spektakel oder Spiele. Selbst die Hooligan-Treffen werden irgendwann einmal langweilig oder man wächst durch Familiengründung aus dieser Szene heraus. Und auch die fantastischsten Computerspiele mit den allerbesten Grafiken schaffen nicht genügend Ablenkung. Reale Aggressionen lassen sich aber, wenn der Gegner zu stark oder quasi unsichtbar ist, sehr leicht umlenken und gegen „Sündenböcke“ ausleben, also gegen künstlich erzeugte „Feinde“. Die Gründe und Motive sind egal, denn diese Feinde müssen einem nichts direkt getan haben, um zum Hass-Objekt zu werden, das zeigt die gesamte menschliche Geschichte.

Wer aber kann solche „Sündenböcke“ kreieren? Natürlich können dies am besten solche Figuren, die Gefühle verstehen, ohne selbst von ihnen gehemmt zu werden, also Menschen, die mit Gefühlen „spielen“ können. Und hier, auf diesem Feld, sind Psychopathen die wahren Helden. Sie erkennen Gefühle, vor allem die Ängste der Menschen, schneller und genauer als andere. Sie wissen, wann sie welche Aussagen mit einer passenden Mimik versehen müssen – und für einfach gestrickte Gemüter reicht oft eine Mimik, ein Tonfall zu egal welcher Aussage – und sie rennen los gegen beliebige Sündenböcke. Ob das nun einzelne Sündenböcke sind oder ganze Gruppen, die von heute auf morgen zu Feinden werden, das spielt keine Rolle. Es entstehen „künstliche Feindschaften“.

Gratifikationen können dies natürlich verstärken. Schon im Nationalsozialismus, der gegen Juden hetzte, war neben der künstlich geschaffenen Aggression auch ein gewisses Gewinnstreben im Spiel. Das Eigentum der Juden kam mit Sicherheit nicht nur als Kapital zur Aufrüstung gelegen… Und wer die kürzlichen Vertreibungen der Christen und Jessiden im Nordirak ins Visier nimmt, der sieht, dass aus friedlichen arabischen Nachbarn von heute auf morgen gierige Verfolger wurden, die dem radikalen “IS“ nach dem Munde redeten und sich an den Verfolgungen und Vertreibungen der Christen und Jessiden beteiligten, deren Eigentum sie in Besitz nahmen: „Künstliche Feinde“ eben.

Und wie viel leichter als früher kann man heute in der digitalen und überwachten Welt Sündenböcke kreieren? Ein leichtfertig dahin gesprochener Satz, eine Scheidung, ein mit Photoshop gefälschtes Bild oder digital veränderte Sätze, dazu eine kleine Prise Übertreibung oder eine empört wirkende Mimik – und schon lassen sich Menschen auf andere hetzen, vor allem dann, wenn ihre „normale“ Kommunikation zunehmend im digitalen Raum verarmt ist. Und je weniger Menschen noch lernen, Vertrauensverhältnisse über enge Freundschaften hinaus zu entwickeln, desto eher werden sie ein künstliches Misstrauensangebot von geschickten Verführern annehmen. Vor allem, wenn dieses Angebot erst einmal nur als Hinweis daherkommt, aber insgeheim performative Züge trägt: Dies ist ein verkappter „Feind“, dem der Rechtsstaat, diese Witzfigur, nicht beikommt. Mit neuen Überwachungstechniken kann das Verhetzen von Gruppen oder Personen zielgenau der gewünschten Verfolgergruppe angepasst werden. Zur Not hilft auch Geld oder eine angedeutete Bedrohung. „Gewalt kann man kaufen!“ – so heißt es in der TV-Serie mit dem Titel „Mammon“ – aber das weiß man inzwischen auch so. Und wann hat es so viel unkontrollierbares Geld, so viel Reichtum für den Kauf von Gewalt gegeben wie heute? Selbst die, welche sich kaufen lassen oder dem angebotenen Spaß am Verfolgen und Quälen von Sündenböcken nachgeben, wissen um den manipulativen Charakter des Spiels – und spielen dennoch mit. Sie ahnen, dass es sich um „künstliche Feindschaften“ handelt – und dass die Anstifter meist die eigentlichen Bösewichte sind. Aber sie machen dennoch mit, legen sich Rechtfertigungen zurecht oder nehmen Rechtfertigungsangebote der Manipulatoren an und lassen Gefühle, die man für „Feindschaften“ braucht, einfach nachwachsen…

Warum dies so ist, das wäre eine spannende Frage für die Humanwissenschaften, eine Frage, von der man sich nicht durch spektakuläre Verzweiflungstaten von Terroristen ablenken lassen sollte. Hatte nicht schon Honoré de Balsac 1846 am Beispiel der "Tante Lisbeth" gezeigt, wie rohe Gewalt in Intrigengewalt umschlägt, wenn sie in einer zivilisierten Umgebung nicht offen ausgelebt werden kann? Und könnte die Intrigengewalt heute nicht viel gefährlicher werden als die rohe Gewalt von Hooligans oder Terroristen? Klar, man muss den Terrorismus bekämpfen, muss ihn eindämmen und ihm auf die Schliche kommen. Aber die wirklichen Gefahren kommen nicht von Verzweifelten, auch wenn sie bisweilen tickenden Zeitbomben gleichen. Die wirklichen Gefahren wachsen quasi „unterirdisch“ bei uns selbst, im Westen, der sich nach einer langen Phase interner Vertrauensverhältnisse in einer „neuen Unübersichtlichkeit“ wiederfindet.