Kontrollsysteme

2018 war nicht nur ein Jahr, in dem sich katastrophale Klimaentwicklungen abzeichneten, es zeigten sich auch klarer als zuvor Zusammenhänge bei der zunehmenden Digitalisierung unseres Lebens.

Vor allem folgende Entwicklungen konnte man beobachten:

1. Die Erleichterung und Verbesserung der Kontrolle von Arbeitsprozessen in der Wirtschaft, in der Verwaltung und in den Medien.

2. Die verbesserte Überwachung der öffentlichen Orte (Straßenverkehr, Bahnhöfe, u.a.), aber auch der privaten Kommunikation.

3. Die Möglichkeit, private und betriebliche Daten auszuspionieren (z.B. über PINs), zu kontrollieren, zu fälschen - und auf destruktive Weise in digital gesteuerte Prozesse einzugreifen.

Als große Bedrohung wird zurzeit die totale Überwachung an die Wand gemalt, wie sie sich vor allem in China abzeichne, wo gerade ein nationales Punktesystem aufgebaut wird, mit dem menschliches Wohlverhalten verstärkt werden soll. Immer wieder wird hier Orwells „1984“ als warnendes Szenario an die Wand gemalt. In China ist es der Staat, der durch Überwachung und Kontrolle systemkonformes Verhalten erzwingen und sozial- und ökologisch positives Verhalten normieren will. Wer sich konform verhält, bekommt eine Belohnung in Form von Punkten, wer sich asozial verhält, bekommt Punkte abgezogen – und kann dadurch viele Vorteile nicht mehr in Anspruch nehmen, wird eingeschränkt im Reisen oder bekommt weniger Kredite. Das klingt bedrohlich, aber die Regeln der Kontrolle werden immerhin öffentlich angekündigt und gelten im Prinzip für alle. Die chinesische Form der Zivilisation ist in dieser Hinsicht kollektivistisch, betont also im Prinzip die Gemeinschaft mehr als das Individuelle.

Wie steht es mit der Kontrolle bei uns im „Westen“, wo man immer wieder die individuellen Grund- und Menschenrechte ins Feld führt und vor dem chinesischen System warnt? Welche Kontrollsysteme gibt es hier? Der Unterschied zu China liegt m.E. an dem dahinterstehenden Wertesystem, das durch Verfassung und Gesetzbücher auf individuelle Rechte ausgerichtet ist. Unsere westliche Form der Zivilisation funktioniert aber nur dann, wenn die Mehrheit der Bevölkerung das demokratische Wertesystem über Erziehung und alltägliche Gewohnheiten verinnerlicht und sich dadurch freiwillig an Verfassung und Gesetze hält. Die Menschen werden als Individuen gesehen, die sich im Idealfall aus Einsicht selbst kontrollieren und asoziale Enthemmungen beschränken.

Aber kann dieses individualistische System in einer zunehmend multikulturellen Welt ohne Zwang funktionieren? Mit Zwang meine ich jetzt nicht etwa Ampeln im Straßenverkehr oder Beschränkungen durch den „Jugendschutz“. Es geht mir hier eher um die Durchsetzung so entscheidender Entwicklungen wie den Ausbau des Umweltschutzes, der Gleichheit im Zugang zu Bildung, der Bekämpfung der verschiedenen Formen von Organisierter Kriminalität (OK), den Schutz vor Korruption, der generellen Durchsetzung der Gleichheit vor dem Gesetz - und heute auch wieder um den Schutz der Grenzen.

Auf verschiedene Weise zeigt sich im Westen nach verschiedenen Erweiterungen individueller Rechte (Arbeitswelt, Wahlen, Politik, soziale Sicherheit, Geschlechterbeziehungen…) ein Trend zur „Enthemmung“, so, als würde das Pendel über eine bestimmte Grenze hinaus immer weiter ausschlagen, bevor es irgendwann mit Schwung wieder in die entgegengesetzte autoritäre Richtung schlägt. Die individualistische Konkurrenzgesellschaft entgrenzt die Ansprüche: Wer mehr hat, will noch mehr, das andauernde Wirtschaftswachstum ist allgemein akzeptiertes Ziel. Die individualistische Konkurrenzgesellschaft verschärft aber auch die Gegensätze zwischen denen, die nach oben drängen, reich werden oder bereits reich sind, die sich zugleich von denen, die es nicht nach oben schaffen, auf vielfältige Weise abgrenzen – und auf der anderen Seite der Mehrheit, die mit immer größerem Stress und Unsicherheit bei der Lebenserhaltung konfrontiert ist. Das Leben wird in mehrere Hinsichten unsicherer: Die einen wissen nicht, ob sie für sich und ihren Nachwuchs noch eine sichere Zukunft haben, die anderen können nicht sicher sein, ob sie ihren Reichtum auf Dauer in Sicherheit und Ruhe genießen können. Sie müssen sich mehr als früher privat absichern, Alarmanlagen bauen, Wohnung und Häuser gegen Einbruch sichern, private Sicherungsdienste beschäftigen usw.

Nun, welche Kontrollsysteme haben die verschiedenen Gruppen in der westlichen Gesellschaft, um im großen Maßstab Sicherheit zu erzeugen?

· Natürlich erst mal Polizei und Justiz, die auf die Einhaltung der Gesetze achten. Beide Institutionen haben sich im Nationalstaat entwickelt, also in einem sprachlich und kulturell überschaubaren Bereich. Sie haben sich zudem sukzessive an die Normen und Werte der Demokratie angepasst. In einer multikulturell entgrenzten Welt und unter dem gleichzeitigen Trend zur „Enthemmung“ stehen Judikative und Exekutive allerdings vor neuen Problemen und sind auf der Suche nach neuen Antworten. (Ein Beispiel ist der gesetzliche Schutz der Privatsphäre, ein garantierter Schutz, der jedoch bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität für Polizei und Justiz oft peinliche Grenzen setzt. Dies bietet leider ein Einfallstor für Informanten, die am Gesetz vorbei Hilfe anbieten.)

· Für die arbeitende Bevölkerung gibt es traditionell die Gewerkschaften und die von ihnen ertrotzten staatlichen Sicherungssysteme. Die Gewerkschaften und die mit ihnen verbundenen Parteien verlieren heute allerdings an Mitglieder und Einfluss. Sie kontrollieren im Prinzip (gerechte) Entlohnungen und u.a. auch menschenwürdige Arbeitsverhältnisse.

· Generell sind sinnstiftende Religionsgemeinschaften und Vereine wichtige Kontrollsysteme, die den Menschen Werte und soziale Verhaltensweisen vermitteln. Sie sind generationsübergreifend, binden an Traditionen und schaffen soziale Zusammenhänge, die zwischen verschiedenen Kulturen vermitteln können. Allerdings lässt im Westen auf der einen Seite die Bindungskraft der großen Religionen nach, während zugleich esoterische oder fundamentalistische Gruppen an ihren Rändern entstehen.

Dies sind nur einige Kontrollsysteme, die unser Handeln begrenzen und uns dabei zugleich schützen sollen – auch vor uns selbst. Mit der globalen Digitalisierung zeigen sich nun aber Trends, die eingespielte Grenzen und Gleichgewichte innerhalb der westlichen Demokratien infrage stellen. Das zeigt sich im Großen an den globalen Skandalen der Bankenwelt (ein Höhepunkt war die Bankenkrise im Jahre 2008, dann die durchgängige Akzeptanz der Geldwäsche durch mehrere Banken), an den Tricksereien der Autoindustrie (Betrugssoftware), an den diversen Manipulationen und Beeinflussungen von Wahlen (z.B. den Wahlen in den USA, dem durch Fehlinformationen und Gerüchte eingeleiteten Brexit usw.), dem kaum noch kontrollierbaren Einfluss von Lobbyisten und sogenannten „Beratern“ in der Politik - und schließlich dem endemischen Mobben und Stalken über das an sich hilfreiche Internet.

Natürlich bietet der Westen nach außen ein positives Bild: In den Verfassungen, den Gesetzeswerken, den immer noch freien Medien, dem Wohlstand und generell den Freiheiten, die er Menschen anbietet. Von daher ist er auch so attraktiv für Zuwanderer, Flüchtlinge, aber auch für „Menschenhändler“ verschiedenster Art...

Nicht nur in China, auch bei uns werden die Menschen zunehmend als Folge der digitalen Vernetzung bis in die letzten Winkel der Privatsphäre hinein durchleuchtet und kontrolliert. Weniger durch Polizei und Justiz, sondern eher über die großen Medienkonzerne, die ihre Kunden zu disponiblen Datenträgern und zur Ware machen, dann über die im Antiterrorkampf gewachsenen Geheimdienste und die mit ihnen an einigen Stellen verbundenen Gruppen der Organisierten Kriminalität. Die Verbindungen zwischen Geheimdiensten und Organisierter Kriminalität lassen sich oft nicht vermeiden. Das schafft neue Probleme für den Staat: Gerade die Organisierte Kriminalität (OK), die heute mehr als früher unauffällig bleiben will, beschafft sich all die Mittel der Überwachung und Manipulation, die auch die Geheimdienste ansammeln, sie verbindet sich über Geldwäschesysteme mit Banken, kauft teure Immobilien in sicheren Städten und verteuert damit die Mieten für Normalverbraucher. Vor allem aber korrumpiert sie Mitarbeiter demokratischer Systeme, wo immer sie dazu in der Lage ist.

Der Zwang zur Erhaltung einer intakten und mit der demokratischen Verfassung kompatiblen Fassade zwingt alle, die sich in einer neoliberalen Konkurrenzgesellschaft einen Vorsprung in Besitz und Macht verschaffen wollen, dazu, nach außen Vertrauensverhältnisse darzustellen. Aber wer sich beim (relativen) Schwinden staatlicher Macht absichern will, der muss auch dem Misstrauen genügend Geltung verschaffen. Und das, anders als in China, über eine inoffizielle und unkontrollierbare Hinterbühne. Dort, auf der Hinterbühne, laufen dann die Fäden zusammen, die alles absichern sollen. Und da jeder ahnt, dass die offizielle Welt nicht stimmig ist, dass die vertrauenssichernden Institutionen der Demokratie am Wackeln sind, suchen sich viele entweder Gruppenbezüge, die eine gewisse Macht ausstrahlen, oder sehnen sich nach einem starken, charismatischen Anführer, der Vorder- und Hinterbühne zusammenhält und Sicherheit ausstrahlt. In beiden Fällen wird eine bestimmte Art der Unterwerfung verlangt, die sich als „Loyalität“ ausgibt – oder sagen wir besser: tarnt. Es werden Verhaltensweisen gefordert, wie man sie z.B. in den beliebten „serious games“ „Beholder“ (2016) oder „Beholder 2“ (2018) beobachten kann. Nur werden die Anführer, die Bösewichte in der heutigen Welt nicht so finster daherkommen wie in diesen Spielen, sondern sie treten modern und vorzeigbar auf, in Schlips und Kragen oder in dem Outfit, den die Mode gerade verlangt. Und sie müssen in der Lage sein, der Masse, die sich unterwirft, eine bunte Konsumwelt, „Brot und Spiele“ anzubieten.

Könnte es sein, dass wir gerade systembedingt dabei sind, die Äste abzusägen, auf denen wir in einer Demokratie sitzen? Während China trotz aller autoritären Tendenzen und Menschenrechtsverletzungen versucht, Vertrauensverhältnisse aufzubauen, bei denen auch die Trickser und Täuscher in ein Kontrollsystem eingebunden werden, bauen wir Vertrauensverhältnisse zunehmend ab. In China werden die Spielregeln der Kontrolle offen angegeben und jeder kann sich darauf einstellen, bei uns sind diejenigen, die nur auf die demokratische Vorderbühne vertrauen, am Ende die Dummen – oder zumindest naiv. Während in China der Staat die Regeln setzt, spielen bei uns unkontrollierte Spieler aus dem Hintergrund mit dem Staat und seine Institutionen. Je finanzstärker diese Spieler sind, je mehr sie Lobbyisten, Berater, Juristen und Vertreter der Exekutive kaufen können, desto totaler wird hier die Kontrolle. Und dabei etabliert sich genau das, was Orwell als Zwiedenken charakterisiert hat, denn man muss sowohl die Regeln der Vorderbühne akzeptieren als auch die der Hinterbühne. Die Akzeptanz eines notorisch lügenden Proleten wie Trump als Führungsperson einer Regierung, vor dem Manager kuschen wie Kinder vor einem Schläger auf dem Spielplatz, zeigt deutlich, wie dumpf und brutal sich bei uns Verhalten enthemmen lässt – und wie rasch das akzeptiert wird. Und was im Großen deutlich sichtbar ist, zeigt sich auch im Kleinen, wo das Gerüchte-Streuen, das Mobben, das netzwerkartige Stalken und alle Arten von Betrügereien sich ausbreiten.

Und weil wir alle trotz vieler Beschwichtigungen die Folgen der schleichenden Enthemmung spüren, entwickelt sich ein Gefühl der Unsicherheit, des Misstrauens und der Angst, wie wir es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht kannten. Und gegen diese Angst steigt ein anderes Gefühl auf. Noch ist es schwer zu beschreiben. Aber es zeigt sich in einer Art Unterwerfungsbereitschaft und der Sehnsucht nach einem starken Anführer oder nach einem schützenden Kollektiv. Vielleicht nicht wieder Faschismus oder Ein-Personen-Diktatur, aber eine Ordnung, die von „außen“, extrinsisch und über Zwang die Sicherheit und das Vertrauen schafft, ohne die man sein ziviles Leben nicht angstfrei führen kann. Schon immer mussten arbeitsteilige Gesellschaften sich vor Enthemmungen einzelner Mitglieder oder Gruppen schützen. Und dafür ist es heute am Ende besser, einem (demokratisch legitimierten) Staat Steuern zu zahlen als „Schutzgelder“ in dieser oder jener Form an die Vertreter der Hinterbühne.

Wenn der Staat aber die Kontrolle verliert und von diversen nichtlegitimierten Spielern dominiert wird, die sämtliche öffentliche Kontrollsysteme infiltrieren, dann muss jeder schauen, wie er sich auf Kosten von wem auch immer über Wasser hält – oder reich wird. Dann kann ein wenig Straßenschläue, wie sie Clan-Führer oder Mafia-Bosse besitzen, Macht und Einfluss bringen – mehr jedenfalls als Bildung oder Ausbildung. Und der Zwang zur Unterwerfung kann langfristig vermutlich eher bei uns als in China ein totalitäres System schaffen. Totalitär entweder über eine Herrschaft sich absprechender, weltweit operierender Konzerne, mafiaähnlicher Clans – oder totalitär über eine digital überwachte „New-World-Order“ (NWO), welche eine in die Enge getriebene Jugend wieder begeistert mit Parolen à la „Heute gehört uns XY-Land – und morgen die ganze Welt!“ Restbestände von Ideen, die Macht und Herrschaft versprechen, die gibt es zur Genüge in der Geschichte. Man muss sie nur aufgreifen und auf die jeweilige Zeit und den aktuellen Stand der Technik anpassen.