Alexander von Humboldt und seine Reise durch
Neu-Granada.
(Detlef Zeiler, Bogotá, 1998)
Am 16. Juli 1799
erreichte Alexander von Humboldt, knapp zwei Monate vor seinem 30. Geburtstag,
in Cumana die Küste Venezuelas, das damals auch Neu-Andalusien genannte wurde,
an Bord der spanischen Fregatte "Pizarro". Anders als der ehemalige
Schweinehirt und Eroberer Pizarro, der im 16. Jahrhundert durch Niederschlagung
und Zerstörung des Inka- Reiches die Ausbeutung des Kontinentes durch Europäer
mit einleitete, kam Humboldt, um zu forschen und mit den Mitteln der
Wissenschaft beim Aufbau und der Modernisierung des Kontinents zu helfen. Nicht
umsonst hatte ihn der große "Libertador", Simon Bolivar, später als
den eigentlichen Entdecker des Kontinents bezeichnet. Er, Humboldt, gab den Startschuss
zur wissenschaftlichen Erforschung Südamerikas, Hilfe zur Selbsthilfe, wie man
es heute im besten Fall von der sogenannten "Entwicklungshilfe"
erwarten würde.
Humboldt kam als
Vertreter der Aufklärung, der die Französische Revolution von 1789 bewußt
erlebt hatte und als Wissenschaftler, der seine Forschungen noch mit dem
Idealismus seiner Zeit betrieb: Nicht nur in seinem isolierten Spezialfach,
sondern in der Kombination mit dem damaligen Weltwissen. Wenn man so will,
dachte Humboldt bereits ökologisch: Natur und Menschen als Teil der Natur
hingen für ihn zusammen, genauso sah er einen Zusammenhang zwischen der
belebten und unbelebten Natur; die Erde war für ihn ein "Kosmos", auf
dem alles mit allem zusammenhing. Und diese Zusammenhänge wollte er mit einem
wissenschaftlichen Enthusiasmus erforschen, der viele, die ihm begegneten,
begeisterte und mitriß. Einer von ihnen war Aime Bonpland. Bonpland, Sohn eines
Chirurgen, war vier Jahre jünger als Humboldt, hatte Medizin studiert und sich
dann auf Botanik spezialisiert. Ihn hatte Humboldt bei seinen Reisevorbereitungen
in Paris kennengelernt. Wer weiß, wie sehr Eifersüchteleien bei Forschungsreisenden
schon zu Feindschaften und Hass geführt haben, der wird das Glück Humboldts
schätzen, das dieser mit dem Freund und Kameraden Bonpland während seiner
gesamten Südamerikareise hatte. Nie hatte es Streit oder böse Worte gegeben.
Und kurz vor seiner Kolumbienreise, am 21.2. 1801, schrieb Humboldt aus Havanna
nach Berlin: "Mit meinem Reisegefährten Bonpland habe ich alle Ursache
überaus zufrieden zu sein. Er ist ... überaus thätig, arbeitsam, sich leicht in
Sitten und Menschen findend, spricht sehr gut spanisch, ist sehr muthvoll und
unerschrocken, - mit einem Worte, er hat vortreffliche Eigenschaften für einen
reisenden Naturforscher."
Bonpland hatte sich
unterwegs vor allem der Aufgabe gewidmet, unzählig viele neue Pflanzen zu
botanisieren und ihre Daten aufzunehmen. Wie Humboldt war dieser französische
Citoyen und Napoleon Anhänger der Aufklärung verpflichtet. Aufklärung
bedeutete für Humboldt auch Volksaufklärung, Verständlichkeit in der
Darstellung wissenschaftlicher Arbeiten und der Glaube daran, dass die
Verbreitung des Wissens über die Zusammenhänge des Lebens ein Beitrag zur
Veredelung des Menschen sei, ihn aus den rohen Sitten herausreiße, die er
gerade auch auf seiner Südamerikareise häufig antraf. Aber dazu später.
Humboldt hatte zu Hause
ein gesichertes Leben als hoher Bergbau-Beamter im preussischen Staatsdienst
aufgegeben, um sich den Jugendtraum zu erfüllen, in die Welt hinaus zu ziehen
und forschend das Wissen seiner Zeit zu vermehren. Seine Waffe war der Geist,
den er mit viel Charme einzusetzen wußte. Er hatte seine liberalen und
aufklärerischen Ideen nie verheimlicht und viele dem damals mächtigen Klerus
verdächtige wissenschaftlichen Meßinstrumente mitgenommen.
6000 verschiedene Pflanzen haben Humboldt und Bonpland
gesammelt und gezeichnet - über 3000 davon waren bis dato unbekannt. 60 000
Her- barien-Blätter, Papierbögen mit aufgepreßten Pflanzen und Pflanzenteilen,
brachten sie heil mit nach Europa. Mindestens ebenso viele waren vorher
vernichtet worden - durch Termiten und Schimmel.
Als der Baron die Früchte seiner Arbeit Napoleon vorführen
wollte, bemerkte der Kaiser nur: »Sie beschäftigen sich mit Botanik? Meine
Frau auch«
Dennoch hatte der
deutsche Protestant vom katholischen spanischen Hof Karls IV. in einem eigens
ausgestellten Paß die Erlaubnis bekommen, die spanischen Kolonien der
"neuen Welt" zu bereisen und alle erdenklichen Messungen vorzunehmen.
Welch ein Vorteil für Humboldt, dass er sich als wissenschaftlich gebildeter
Bergbau-Beamter schon in jungen Jahren einen guten Ruf erworben hatte, wo doch
neu entdeckte Bodenschätze oder Verbesserungen im Bergbau auch der spanischen
Krone Nutzen versprachen! Welch ein Vorteil auch, dass aus den zersplitterten
Kleinstaaten Deutschlands keinerlei koloniale Konkurrenz drohte! Welch ein
Vorteil zudem, dass Humboldt nach dem Tod seiner Eltern eine Erbschaft
zugefallen war, die ihm erlaubte, die gesamte Forschungsreise selbst zu
finanzieren! Er war sozusagen der erste wirklich unabhängige wissenschaftliche
Forschungsreisende: geistig, materiell - und von den persönlichen Bindungen her
gesehen.
Über die Forschungsreise
Humboldts durch das heutige Venezuela, über seine Orinoko-Reise und die
Entdeckung des Casiquiare als Verbindung zwischen dem Orinoko-Flußsystem und
dem Rio-Negro als dem größten linken Nebenfluß des Amazonas, ist bereits viel
geschrieben worden. In Europa sind die großen Ströme durch Wasserscheiden
getrennt, weshalb dieses Phänomen dort unbekannt war und lange Zeit nicht
geglaubt wurde. Es gibt heute reichlich Film- und Bildmaterial von Abenteurern,
die Humboldts Spuren durch Venezuela gefolgt sind.
Wie kam es aber zu der
nicht geplanten Reise Humboldts durch das heutige Kolumbien, durch diesen Teil
des damaligen "Nueva Granada"? Es war, wie vieles bei dem
bienenfleissigen und stets freundlichen Forscher, ein Zufall. Er handelte nicht
nach festen Theorien oder nur nach einmal gefassten Plänen, auch wenn er alles
so detailliert wie möglich plante: Am 24. November 1800 verlassen Humboldt und
sein wissenschaftlicher Begleiter Bonpland Venezuela und kommen nach einer
stürmischen Überfahrt am 19. Dezember in Kuba an. Von dort sollte nach einer
Phase der Ordnung ihrer in Venezuela erworbenen Sammlungen, die nach Europa
geschickt wurden, die Reise an der Westküste Amerikas entlang bis nach Kanada
weitergehen - und von dort aus über den Ohio und den Mississippi wieder nach
Süden. Und schließlich war die Rückreise über Mexiko westwärts über die Philippinen
und Ostindien geplant. Auf Kuba erfährt Humboldt jedoch von den Plänen des
französischen Kapitäns Baudin, eine zunächst abgesagte Weltumseglung doch noch
zu starten. Daraufhin beschließt er, nach Lima zu reisen, um sich dort dem
Kapitän anzuschließen. Am 9. März verlassen Humboldt und Bonpland Kuba und
segeln in einem relativ kleinen Schiff nach Cartagena, der wichtigsten Hafenstadt
Neu-Granadas an der karibischen Küste.
Cartagena
Nach einem Zwischenstopp
auf La Trinidad, wo sie mit französischen Emigranten aus dem aufrührerischen
Santo Domingo Zusammentreffen, erreichen sie Mitte März den Kontinent und
fahren ostwärts gegen starken Wind in den Hafen von Cartagena, wobei ihr Schiff
umschlägt und beinahe kentert. Als sie in der Nacht vom 29. Auf den 30. März
bei Windstille das Land betreten, müssen sie rasch wieder aufs Boot eilen, da
entlaufene schwarze Gefängnisinsassen sie mit Dolchen anfallen. Am 30. März
1801 können sie endlich in Cartagena sicher an Land gehen.
Wie überall auf seiner Reise fing Humboldt sofort mit
wissenschaftlichen Messungen und dem Kartographieren an. Instinktsicher traf
er immer die richtigen Leute, die mit ihren Beziehungen oder eigenem Vorwissen
weiterhelfen konnten: ein Geben und Nehmen. So lernte er in Cartagena den
Präsidenten der Handelskammer, Jose Ignacio Pombo kennen, ein typisch
südamerikanisches Organisationsgenie, Förderer der Wissenschaft und
hervorragender Kaufmann, der ihn später auf seinen Landsitz nach Turbaco
einlud.
Wie schon in der
venezulanischen Hafenstadt Cumanä störten Humboldt jedoch auch in Cartagena die
Auswüchse des Sklavenhandels, die kaum zu übersehen waren. Aber noch mehr
störte es ihn später auf seiner Reise von Cartagena nach Bogota, wenn er
Sklavenhaltung bei eingewanderten Europäern sah, die sich in Europa als
aufgeklärte Intellektuelle gaben. Voller Wut notierte er diese
Widersprüchlichkeit und Heuchelei in seinem Tagebuch.
Auch kirchliche
Doppelmoral und Aberglaube fiel ihm in Cartagena auf. So beobachtete er während
einer Oster-Prozession Bettler, die eine Dornenkrone trugen, ein Kruzifix hielten
und gegen Zahlung einiger Piaster vom Pfarrer das Recht erhielten, in den
Häusern zu betteln. Bei Sonnenuntergang wurden dann in den Hauptstraßen große
Puppen, die Juden darstellen sollten, an Stricken aufgehängt und später zur
"heiligen Belustigung" verbrannt. Eine entwürdigende Szene für einen
europäischen Aufklärer.
Nach einem Abstecher
nach Turbaco, wo er in der näheren Umgebung die Schlammvulkane beobachten
konnte, wollte er zunächst so rasch wie möglich nach Panama an den Pazifik, um
auf dem Seeweg nach Guayaquil und dann nach Quito zu gelangen. Wiederum brachte
ihn etwas Unvorhergesehenes zur Änderung seines Planes. Als Humboldt von Jose
Ignacio Pombo erfuhr, dass der günstige Segelwind im Pazifik nicht mehr wehte
und die Fahrt bis zu drei Monate hätte dauern können, entschied er sich (zum
Glück) für den beschwerlichen Landweg über Bogota und Popayan nach Quito.
Mitbestimmt wurde dieser Entschluß durch die Möglichkeit, den auch in Europa
bekannten Botaniker Jose Celestino Mutis in Bogota zu besuchen, die Kordilleren
zu übersteigen und dabei das Kartenbild Südamerikas zu vervollständigen. Schon
von Turbaco aus hatte Humboldt dem alten Mutis einen klugen und sehr
freundlichen Brief nach Bogota geschrieben, was auch sein taktisches Geschick
beweist. Mutis war eine anerkannte Autorität der Wissenschaft und in Bogota
zudem dadurch abgesichert, dass er sich zum Priester hatte weihen lassen. Man
muß dazu wissen, dass der Vizekönig in Bogota nur wenige Jahre zuvor recht hart
gegen junge Verfechter der Menschenrechte vorgegangen war, die sich auf Ideen
der französischen Revolution beriefen. Der Zusammenhang zwischen
naturwissenschaftlicher Arbeit und revolutionärer Gesinnung schien damals vor
allem einflußreichen kirchlichen Vertretern offensichtlich zu sein!
Der in Bogota
residierende Vizekönig Pedro Mendinueta y Müsquiz (1797-1802) konnte sein
Mißtrauen auch gegenüber Humboldt nur mühsam verbergen. Er hatte ihn auf der
Fahrt von Cartagena über Honda nach Bogota durch einen Spion heimlich
beobachten lassen, um sicher zu gehen, dass Humboldt sich auf keine
außerwissenschaftlichen Aufgaben einließ.
Rio Magdalena
Am 21. April 1801
bestieg Humboldt mit seinem treuen Begleiter Bonpland und einigen Helfern in
Barancas Nuevas ein Schiff auf dem Rio Magdalena, in dem sie den nicht ungefährlichen
und mückenverseuchten Strom hinaufgerudert wurden. Man bedenke, dass Humboldt
nicht schwimmen konnte. "Unsere Madgalena-Reise", so schrieb er
später, "bildete eine schreckliche Tragödie; von den zwanzig dunklen
Ruderknechten ließen wir acht auf dem Weg zurück, ebensoviel langten gleich und
mit stinkenden Geschwüren bedeckt in Honda an... Welch ein Zufall, dass meine
Natur allen Fiebern so glücklich widersteht. In den zweieinhalb Jahren bei so
vielen Reisen durch dichte Wälder, auf Sümpfen und Flüssen, unter den
ansteckendsten Krankheiten: immer blieb ich vom Fieber frei." (Zit nach rororo Monographie Humboldt, S.
87) Und dies auf dem Hintergrund, dass Humboldt zuvor im sicheren Deutschland
als kränklich galt!
In Humboldts Begleitung
fanden sich illustre Personen wie der französische Arzt Louis de Rieux, der
1794 in Honda wegen Hochverrats verhaftet worden war und für kurze Zeit das
Inquisitionsgefängnis von Cartagena, heute ein Museum, von innen kennenlernen
mußte. Rieux hatte eine Mätresse dabei, von der Mutis beim ersten
Zusammentreffen voller Schrecken annahm, sie gehöre zu Humboldt. Aber Humboldt
hatte sich der Wissenschaft verschrieben und mied zeitlebens intensive
Beziehungen zu Frauen, obwohl er damit nicht selten hübsche und gebildete
Frauen enttäuschte. Er sprach mit ihnen, schrieb Briefe, war ein guter Tänzer,
hatte die für die Zeit der Romantik typischen intensiven Freundschaften auch
mit Frauen, aber er wollte sich nicht fest binden.
Die Flußfahrt nach Honda
war ein wichtiger Abschnitt in Humboldts Reise. Er hat den Verlauf des
Flusses, der größer als der Rhein ist, kartographiert und seine
Arbeitsergebnisse dem Vizekönig zur Verfügung gestellt. In Mompos beobachtete
er eine enorme Mosquitoplage, weil die Stadtbehörden Straßen, Plätze und
Hinterhöfe mit Gebüsch überwuchern ließen. Auch gab er später Hinweise zur
Verbesserung der Schiffbarkeit des Rio-Magdalena.
Von Honda nach Bogota
In Honda besuchte
Humboldt ein Bergwerk und traf auch mehrere deutsche Bergleute, die mit den in
Deutschland ausgebildeten Brüdern d'Elhuyer hierher gekommen waren. Humboldt
hatte die Brüder d'Elhuyer in Freiberg als Studienfreunde kennengelernt.
Hier, in Honda,
erhielten sie auch eine sehr freundliche Antwort von Mutis - und Humboldt
schrieb noch rasch einen Brief an den Vicekönig. "Die Mutis dargebrachte
Huldigung wiederholte ich in einem Brief an den Vicekönig und verfehlte meinen
Zweck nicht. Für den einsam lebenden Gelehrten war es viel, dass seine
Mitbürger einen Menschen aus dem fernen europäischen Norden kommen sehen, um
ihn zu besuchen: ihn, den ein großer Theil des Bogotäer Publikums mit
affectirter Gleichgültigkeit behandelte..." Man muß wissen, dass Spanier
und Kreolen in den Kolonien mehrheitlich nicht sehr viel von auf den ersten
Blick brotlosen Wissenschaften hielten und mehr an Materiellem und Äußerlichem
interessiert waren.
Am 23. Juni 1801 fuhren
Humboldt und Bonpland von Honda aus mit einem Kanu bis Las Bodegitas und
stiegen dann über Guaduas die 150 unwegsamen Kilometer hinauf zur Hochebene
von Bogota, die etwa 2600 Meter höher gelegen ist. In einer vielzitierten
Landschaftsbeschreibung fasst Humboldt seine Eindrücke zusammen:

"Ist die letzte
Höhe des Gebirges erstiegen, dann übersieht man alsbald eine weite Fläche,
deren Ende das Auge kaum erreicht. So sehr ich auf diese Naturszene vorbereitet
war, erstaunte ich doch nicht wenig, in solcher Höhe eine meeresähnliche Ebene
zu treffen. Vier Tage lang war ich in Hohlwegen eingeschlossen gewesen, in
denen kaum der Körper des Maulthieres Platz fand; mein Auge war an des Waldes
Dik- kicht, an Abgründe und Felsklippen gewöhnt: plötzlich sehe ich nun fast
grenzenlose Felder in leerer Fläche vor mir. Gerade hier, also in der Höhe
..., in dieser luftdünnen Atmosphäre, haben die Conquistadoren eine Stadt
angelegt! So freundlich auch den Europäer Weizenäcker anlächeln, dieser flache
Boden eines alten abgelaufenen Sees hat doch wegen der gänzlichen Baumlosigkeit
und der Reinheit der Luft einen einförmigen, einen ernsten, ja traurigen
Charakter."
Allerdings wurde es in
Bogota bald heiterer, auch für Bonpland, der sich erst noch von einem Fieber
erholen mußte. Schon der Empfang weit vorneweg in Fontibon war beeindruckend,
wie Humboldt seinem Tagebuch anvertraute:
"Die Vornehmsten
Bogotas hatten sich hier versammelt, um uns nach spanischer Sitte zu
bewillkommnen. Da war vom Vicekönige ein Assessor entsendet und vom Erzbischof
ein Secretär; sodann trafen wir den Rector der Bogotäer Hochschule, Fernando
de Vergara y Caicedo, und den nächsten Freund von Mutis, Escallon... Nun hielt
man von allen Seiten schöne Reden über das Interesse der Menschheit und über
die Aufopferung für die Wissenschaft; Complimente erfolgten im Namen von
Vicekönig und Erzbischof. Alles klang unendlich groß, nur fand man mich selbst
sehr klein und sehr jung... Alles lief gut ab, aber unendlich förmlich... - Der
dann folgende, in Bogota lang erwartete Einzug war sonderbar, fast possierlich.
Ich mit den Lonzanos und dem geistlichen Rector im ersten sechsspännigen
Wagen... Bonpland in dem zweiten, ebenfalls sechsspännigen Gefährte; um uns her
ein Schwarm von Reitern, der noch durch die von Bogota Entgegenkommenden sich
vermehrte. In der Stadt die Fenster voll Köpfe; Gassenbuben und Schulknaben
liefen schreiend und mit Fingern auf mich weisend eine Viertelmeile weit neben
den Kutschen her; Alles versicherte, daß in der todten Stadt seit langen
Jahren nicht solch eine Bewegung und solch ein Aufstand stattgefunden habe. Wir
sind ja Ausländer und sogar wunderbare Ketzer: Leute, welche die Welt
durchlaufen, um Pflanzen zu suchen, und ihr Heu
nur mit dem des alten Mutis vergleichen wollen; mußte das nicht die Neugierde
reizen? Dazu der Umstand, daß der Vicekönig unsere Ankunft als einen Act von
Wichtigkeit betrachtet und befohlen hatte, uns aufs Feinste zu behandeln. Mutis
hatte die Wittwe seines Bruders, die seit einiger Zeit von Bucaramanga hierher
gekommen ist und von seiner Gnade lebte, ausziehen lassen; wir trafen ein
eigenes Haus mit Hof, Garten und Küche an.
Vor dieser Wohnung
erwartete uns mit seinen Freunden der alte Kron-Botanicus, eine ehrwürdige,
geistreiche Gestalt in priesterlichem Kleide. Wie ich mit dem Barometer in der
Hand ausstieg und das Instrument niemandem anvertrauen wollte, lächelte er; mit
vieler Herzlichkeit umarmte er uns und war bei dieser ersten Zusammenkunft fast
verlegen bescheiden. Wir sprachen sofort von wissenschaftlichen Dingen... er
aber lenkte das Gespräch geschickt auf allgemeine Gegenstände, damit es den
Umstehenden verständlicher werde. In den für uns bereiteten Zimmern war ein
prächtiges Essen aufgetischt." Bogota hatte damals ungefähr 21 500
Einwohner, hielt zwar den Sitz des Vicekönigs, war aber kleiner als Quito und
sehr klein verglichen mit der heutigen 8-Millionen Stadt. Die Stadt wirkte
damals ungepflegt und die Hauptgebäude schienen zu verfallen. Einige Mitglieder
der Oberschicht lebten aber in einem auffallenden Luxus.
Zweck des Aufenthaltes in
Bogota war die Begegnung und der Austausch von Wissen mit Celestino Mutis, ohne
Zweifel dem bedeutendsten Botaniker, den Iberoamerika je gehabt hat. Aber die
wissenschaftliche Seite des Besuches mußte von Humboldt mit viel Mühe gegen die
vielen freundlichen Einladungen, Abendgesellschaften und Bälle der
Honoratioren durchgesetzt werden. Trotz aller sozialer Verpflichtungen gelang
es Humboldt aber während der fast zwei Monate seines Aufenthaltes, Ausflüge in
die nähere Umgebung zu machen. In seinen 1884 erschienenen
"Südamerikanischen Studien" schreibt der ehemalige deutsche
Generalkonsul in Bogota, H.A. Schuhmacher: "Bald hatte Humboldt auch in
der eigenen Wohnung ein kleines Museum eingerichtet, das von halb Bogota
neugierig besucht wurde, namentlich von den schönäugigen Töchtern der
Stadt." (S. 105)
Humboldt besuchte und zeichnete den versteckt gelegenen
See Guatavita, wo ihn - wie schon am Orinoco - die Legende von El-Dorado einholte:
Auf dem Grund dieses Krater-Sees vermutet man bis heute goldene Kultgegenstände.
Wie in der Zeichnung von Humboldt kann man auch heute noch am Kraterrand des
ungefähr einen Kilometer breiten Sees einen tiefen Einschnitt sehen, den der
Spanier Antonio de Sepülveda graben ließ, um den See ablaufen zu lassen und an
die sagenhaften Schätze der Indios zu gelangen. Einige goldene Schmuckstücke
und einen Smaragd hatte Sepülveda tatsächlich gefunden, dann aber hatte ein
Erdrutsch viele seiner indianischen Arbeiter getötet und die Grabung mußte abgebrochen werden.
Jose Celestino Mutis
Auch den Wasserfall
von
Tequendema hatte Humboldt gezeichnet, damals ein beeindruckendes Schauspiel;
heute fällt nur noch bei starkem Regen ein Rinnsal nach unten, da die Wasser
des Rio de Funzhe zu einem Kraftwerk bei Bogota geleitet werden. Gerade der
Vergleich mit den Aufzeichnungen Humboldts zeigt die Zerstörungen der Natur,
die unsere Zivilisation mit sich bringt. Wer würde heute z.B. noch in einem
Hotel nahe eines Rio-Bogotá wohnen wollen, der an einem Wasserfall zwar ein
schönes Bild abgibt, aber derart stinkt, dass man kaum zu atmen wagt?
Bleibenden Erfolg
hinterließ eine Studie Humboldts zu den Kron-Salzwerken von Zipaquirä. Humboldt
kritisierte den "Tagesschurf", der einem "verpfuschten
Steinbruch" ähnlich sähe. Er untersuchte die geologischen Verhältnisse,
erörterte technische Probleme und gab auf dem Hintergrund seiner Erfahrungen
aus Deutschland Verbesserungsvorschläge. Heute kann man in Zipaquira den
Untertageabbau besichtigen und eine Kirche, die direkt in den Salzstock gehauen
ist - in ihrer modernen Version erscheint mir diese jedoch sehr europäisch
gehalten; sie soll modernes Christentum verkörpern, entfernt sich aber dabei
von den religiösen Vorstellungen der Einheimischen.
Humboldt begutachtete
auch die Silbergruben bei Mariquita und lobte die Arbeiten des verstorbenen
Fausto d'Elhuyar, dem man unterstellt hatte, einen viel zu teueren Bau begonnen
zu haben.
Daneben stellte Humboldt
magnetische, barometrische und astronomische Messungen mit seinen aus Europa
mitgebrachten, modernen Gerätschaften an.
Humboldt verkehrte
häufig mit Personen, die in Bogota als aufrührerisch verschrien waren. Aber
weder Mutis, noch der Erzbischof, noch der Vicekönig wagten ihm dies
vorzuwerfen. Im Gegenteil: Wie Humboldt später erfuhr, hatte er sogar indirekt
die Haft von Antonio Narino mildern können, als er sich bei seiner Ankunft mit
dessen kleinem Sohn Bogota näherte. In Bogota gab es viele untergründige
Spannungen, von denen die zwischen der Ortsaristokratie und der Regierungspartei
wohl am bedeutendsten waren. Besonders die Vorwürfe der Lonzano-Familie wirkten
empörend, da hier ein Mitglied sich die offiziell zugestandene Freiheit
genommen hatte, in Spanien gegen den Vicekönig zu klagen; diese Klage aber
wurde zurückgeschickt und der alte Lonzano für drei Jahre in Cartagena
eingekerkert. Nach der Freilassung war er dann gestorben.

Für den 7. September war eine Sonnenfinsternis
vorausgesagt worden, die aber in Bogota kaum sichtbar war. "Am nächsten
Tage geschah unser Ausritt mit elf Lastthieren; der Abschied im Mutis'schen
Hause war rührend. Der alte Mann überhäufte uns mit Güte und mit Wohlthaten; er
gab uns Speisevorrath mit, den drei stämmige Maulthiere kaum fortschleppen
konnten. Unser Abzug war fast so glänzend wie unser Einzug. Eine große Schaar
von Reitern begleitete uns bis zur Brücke von Boza, wo Abschied genommen wurde;
nur Jose Ayala y Vergara ritt weiter mit. Wir erreichten nicht Cibate, wo wir
schlafen sollten, blieben vielmehr in Puente Grande. Am 9. September ging es über
die unwirthliche Hochebene von San Fortunato und dann durch einen unendlich
schönen Wald zu dem lieblich gelegenen Ort Fusagasuga, der schon der wärmeren
Zone angehört; dort besitzt Lozano ein hübsches Landhaus." So schilderte
Humboldt selbst seine Abreise aus Bogota.
Über die Kordilleren nach Pasto
In einem zunehmend
beschwerlicheren Weg reisten sie nach Westen, überschritten den Magdalena und
kamen über Contreras nach Ibague, wo sie sorgfältig Länge und Breite
bestimmten. Hier ließen sie einige hundert Vijaoblätter so zuschneiden, dass
sie leicht aneinandergereiht werden konnten und unterwegs als Zelt und
Regenschutz dienten.
Auf ihrem Weg über die
östliche Kordillere, über den Quindfu- Pass, über viel Geröll und Matsch,
mußten sie bisweilen bei einem Platzregen Halt machen und sich unter ihr
wasserdichtes Zelt aus Vijaoblättern stellen. Manchmal war ihr Pfad nur
30-40cm breit oder voller Morast - und Bambusschilf zerriß die Schuhe. Dennoch
ließen Humboldt und Bonpland sich nicht wie ihre spanischen Begleiter von
stämmigen Indianern ("cavallitos" = Pferdchen) auf einem an deren
Rücken gebundenen Stuhl tragen. Sie hielten dieses Verhalten für einen Verstoß
gegen die Menschenwürde.
Über Cartago führte der
Weg nach Buga, "durch das herrliche Thal des Caucaflusses" nach
Popayan, das heute das kolumbianische Heidelberg genannt wird: wegen der
vielen historischen Gebäude (die nach dem letzten schweren Erdbeben vor
einigen Jahren wieder aufgebaut wurden) und wegen des milden Klimas. Damals
aber war Popayan ein verfallenes und verschlafenes Städtchen. Auf dem Markt
fiel Humboldt auf, dass Kalkerde feilgeboten wurde, die zusammen mit Kokablättern
zu kauen war. Ich habe diese Mischung selbst einmal ausprobiert, um mir den
anstrengenden Aufstieg auf einen über 3600 Meter hohen Berg in Peru zu
erleichtern. Humboldt ist ohne Kokablätter noch höher gestiegen.
Von Popayan aus wagten
Humboldt und Bonpland am 18. November 1801 den Aufstieg auf den Purace.
"Vor Kälte erstarrt, gelangten wir an diejenige Gegend des Vulcans, wo
die Vegetation aufhört. Man hielt es für unmöglich, dass ich an diesem Tag den
Vulcan besteigen könnte. Voll Neugierede, aber nicht ohne Furcht, näherten wir
uns, Bonpland, ich und die Indianer, dem Schlund. Die Menge des Rauches und die
rotgelben Schwefeldämpfe geben der unteren Öffnung ein ernstes und düsteres
Aussehen. Je nach Dampfmenge vermutet man noch einen größeren Krater; man hat
lange Zeit Mühe, seinen Sinnen zu trauen und ist stets geneigt, den
Schwefeldampf für Flammen zu halten... Der Punkt, wo ich mit dem Barometer maß,
lag 4660 Meter über dem Meer. Der zunehmende Hagel und das Abnehmen unserer
Kräfte, machten es unmöglich, den Gipfel zu erreichen."
Wer in Humboldts auch
heute noch lesenswerten Reisebeschreibungen nachliest, dem fällt auf, wie er
nie aufhört, über die Eindrücke der Natur, der Landschaft und die für ihn neuen
Sitten der Menschen zu staunen. Er hat das Staunen nie verlernt - und uns
immer seine Eindrücke über alles mitgeliefert, was er aufzeichnete. Auch
kulturelle Unterschiede haben ihn fasziniert. Ja, er schickte seinem Bruder
Wilhelm, der sich mit Sprachgeschichte beschäftigte, sogar Aufzeichnungen über
ganz fremde Sprachen, die heute nicht mehr anzutreffen sind. Und er lernte
unterwegs die alte Inka-Sprache verstehen und ein wenig sprechen.
Für Humboldt waren die
Bergbesteigungen in Kolumbien eine gute Vorübung für die Besteigung noch
höherer Gipfel, die im heutigen Ecuador lockten. Vor allem die Besteigung des
Chimborazo, die er selbst hervorragend beschrieben hat, sollte ihn berühmt
machen.
Unter den Kreolen und
Spaniern in Popayan bestand kein großes Interesse an seinen
naturwissenschaftlichen Forschungen - und das Leben der Stadt war teilweise von
persönlichen Aversionen geprägt, "wie denn solche Gegnerschaften hier im
Lande überall sich zeigten." (Tagebucheintrag Humboldts)
Am 27. November 1801
verließ Humboldt mit Bonpland Popayan: "Die Jahreszeit verlangte es, daß
der Weg über Almaguer genommen wurde; so begann denn bald der schwere, Tag für
Tag mehr ermüdende Gebirgsritt, der über die gefrorenen Hochebenen und durch
die wilden Schluchtentäler der Provinz Pasto führte; die Öde trieb zu möglichst
schnellem Weiterreisen, ebenso der Wunsch, bald von Baudin Nachricht zu
erhalten."
Um das fieberverseuchte
Patiotal zu vermeiden, ritten sie über die Paramos von Pasto:
"Paramo heißt in
den Anden jeder Ort, wo auf einer Höhe von 1700 - 2000 Toisen (= 3500 - 4000
Meter) die Vegetation stillsteht und eine Kälte ist, die bis in die Knochen
dringt... Dicke Wälder liegen zwischen Morästen; die Maulthiere sinken bis auf
den halben Leib ein; und man muß durch so tiefe und enge Klüfte, daß man in
Stollen eines Bergwerks zu kommen glaubt. Auch sind die Wege mit den Knochen
der Maulthiere bepflastert, die hier vor Kälte oder aus Mattigkeit umfielen.
Die ganze Provinz Pasto, mit Inbegriff der Gegenden von Guachucal und um
Tuqueres, ist eine gefrorene Gebirgsfläche fast über den Punkt herauf, wo die
Vegetation aushalten kann, und mit Vulkanen und Solfataren umringt, woraus
beständige Rauchwirbel dampfen. Die unglücklichen Bewohner dieser Wüsteneien
haben keine andere Nahrung als Pataten [= Bataten]; und wenn diese ihnen
fehlen, wie im letztverwichenen Jahr, so gehen sie ins Gebirge, um den Stamm
eines kleinen Baumes zu essen, der Achupalla heißt (Pourretia pitcarnia).
Da aber der nehmliche Baum auch den Bären der Anden zur Speise dient, so machen
diese ihnen oft die einzige Nahrung streitig, welche dieses hohe Land den
Menschen darbeut."
In Pasto wurden sie
gastfreundlich aufgenommen - und Humboldt unternahm noch mehrere Exkursionen
in die Umgebung, wobei er auch den Vulkan von Pasto besuchte.
Nächstes Ziel war
Ibarra, wo sie Caldas treffen wollten, einen jungen Forscher, der in Bogota
studiert hatte, in Quito lebte - und von dem bereits bekannten reichen Pombo
aus Cartagena bei seinen naturwissenschaftlichen Studien gefördert wurde. Die
anstrengende Weiterreise führte also nach Ibarra, das im heutigen Ecuador liegt
- damals noch ein Teil von Neu-Granada. Meine Beschreibungen enden jedoch an
der kolumbianischen Grenze.
Politische Ansichten
Humboldt war sicherlich
der Aufklärung verpflichtet, in deren Zusammenhang er auch seine
naturwissenschaftlichen Forschungen sah, die er ja wie ein Abenteurer betrieb.
(Und ein Abenteurer war er ja mit Sicherheit) Aber er war kein Jakobiner, kein
Revolutionär. Seine Republik war die Republik der Gelehrten, die sogenannte
"Gelehrtenrepublik", die damals noch zusammenhielt wie Pech und
Schwefel, da sie davon ausging, dass die Zukunft auf ihrer Seite ist. Und
dieser Optimismus prägte die Gemeinschaft der Forscher und Wissenschaftler, die
sich Briefe schrieb, debattierte und immer neugierig auf die Arbeitsergebnisse
benachbarten Forschungszweige war.
Mit Sicherheit hat
Humboldt nach 1804, als er wieder in Paris war, dem damaligen kulturellen
Zentrum der Welt, den jungen Simon Bolivar stark geprägt. Er hat ihn für seine
Heimat, über deren Erforschung nun alle Welt staunte, begeistert und ihn aus
seinem etwas oberflächlichen Leben herausgerissen. Bonpland hatte Bolivars
Fähigkeiten aber viel eher erkannt als Humboldt, wie dieser später selbst
zugab. Aber Humboldt hatte die Aufbruchsstimmung, die innere Unruhe der
amerikanischen Jugend schon frühzeitig bemerkt, wie er in seinem Tagebuch notierte:
"Die amerikanische Jugend ist in einer inneren Gemütsbewegung, welche man
in Spanien nicht kennt."
Aber was konnte er von
Europa aus tun? Humboldt befürwortete öffentlich die Selbständigkeit der
spanischen Kolonien, deren staatliche Anerkennung, nachdem 1810 die Revolution
einmal losgebrochen war. Hierin wußte er sich mit seinem Bruder Wilhelm einig.
Und er versuchte die Angst in Europa vor einer neuen ökonomischen Konkurrenz zu
zerstreuen. Aber er hatte wenig Erfolg gegen die kurzsichtigen Überlebensinteressen
der "Heiligen Allianz", die nach der Niederschlagung Napoleons die
aussenpolitische Sicherheit und das offizielle staatliche Denken Europas
bestimmte.
Mit wirtschaftlichen
Argumenten führte er den Revolutionshorror der herrschenden
"legitimen" Mächte in Europa ad absurdum. Aufstrebende
Nationalstaaten in Südamerika stellten nach Humboldt keine Gefahr für die
Europäische Wirtschaft dar - und nur die großen Handelsstädte (und England)
verstanden dies beizeiten. Im Gegenteil: "Das gewerbfleißige und
handeltreibende Europa wird aus der neuen Ordnung der Dinge, wie sie sich im
spanischen Amerika gestaltet, seinen Nutzen ziehen... Die einzige Gefahr, die
den Wohlstand des alten Kontinents bedroht, wäre, wenn die inneren Zwiste kein
Ende nähmen, welche die Produktion niederhalten und die Zahl der Verzehrenden
und zu gleicher Zeit deren Bedürfnisse verringern." Mit diesen Worten
versuchte Humboldt in Europa für die Selbständigkeit der spanischen Kolonien zu
werben. Es waren wirtschaftliche Argumente, die den Vorteil der Europäer
ansprachen, einen neuen Handelspartner im Westen zu bekommen.
Aber auch die
Widersprüche innerhalb der südamerikanischen Intelligenz hatte Humboldt
erkannt. Den Klerus, den er in seiner Verbohrtheit damals am meisten
verachtete, können wir getrost weglassen. Nein, innerhalb der Aufständischen
gab es Widersprüche, die schon zu Humboldts Zeiten absehbar waren. Es gab die
Gruppe, die mit der Kolonialmacht einen Kompromiß suchte. Es gab die
kreolische Revolutionspartei, die keinerlei Kompromisse mit der spanischen
Metropole wollte. Es gab den Wunsch nach Unabhängigkeit von Spanien auf
republikanischer Grundlage, ohne die Grundlagen der kolonialen Wirtschafts-
und Sozialstruktur verrücken zu wollen. Und es gab den Zwang, gegen die Spanier
auch die unterdrückten Schwarzen und Indios in den Kampf einzubeziehen - und
damit aufzuwerten. Selbst eine Persönlichkeit vom Range Simon Bolivars überwand
nur zögernd die Vorbehalte gegen ein Bündnis mit den Volksmassen, das auf einer
Befreiung der Sklaven und einer Aufwertung der indianischen Bauern beruhte.
Letztlich wurden die sozialen Fragen des südamerikanischen Kontinents bis heute
nicht gelöst. Zu viele Fragen waren auf einmal zu lösen gewesen, als sich die
Staaten Südamerikas bildeten: So ging es theoretisch um die Nationenbildung
noch vor der Klärung der Staatenbildung, also des Aufbaus einer
staatlichen Verwaltung innerhalb klarer Grenzen. So ging es um die ungeklärte
Frage des Verhältnisses von Regional- und Zentralgewalt (Föderalismus -
Unitarismus). So ging es um die innere Struktur und Funktionsweise der
Republiken (Präsidialregime oder parlamentarische Demokratie) und die Stellung
der neuen Staaten zur Möglichkeit einer kontinentalen Föderation, wie sie
Simon Bolivar im Kongreß von Panama 1826 in die Wege zu leiten hoffte. Alle
diesen Fragen sind heute noch offen, wie man an den Guerillakämpfen in Kolumbien
sehen kann, welche die staatliche Existenz in Frage stellen und die Frage des
Föderalismus mit der Frage der sozialen Regulierung auf eine verzwickte Weise
neu stellen. Sollen beispielsweise die Guerillagruppen als Regionalmächte anerkannt
und damit in die Verwaltung eingebunden werden?
Was wir heute bei
Humboldt lernen können, ist das genaue Beobachten - und die Parteilichkeit für
die Menschenrechte und die Ideen der Aufklärung, die noch nicht an Aktualität
verloren haben.
(Detlef Zeiler)